Damian Santamaria aus Weinstadt erlebt die Welt anders als die meisten anderen Menschen: Er ist hochsensibel. Was das bedeutet, wie er damit zurecht kommt und wie ihm diese Eigenschaft sogar nützt:

Weinstadt - Es ist nur eine Fliege, wenn auch eine sehr lästige. Doch Damian Santamaria bringt ihr Herumsummen immer wieder völlig aus dem Konzept. Dabei will er doch gerade die Gesprächszeit mit dieser Zeitung nutzen, wirklich voll und ganz nutzen, um umfassend alles, wirklich alles über Hochsensibilität und seine eigenen Erfahrungen damit zu schildern. Die Öffentlichkeit aufklären und anderen Betroffenen eine Hilfestellung geben, das ist sein Ziel. Daher hat er, perfektionistisch wie er ist, sich auf das Interview gut vorbereitet, hat schriftlich seine Gedanken sortiert, die er jetzt wiedergeben will – wenn da diese Fliege nicht wäre.

 

Sichtlich erleichtert ist Santamaria deswegen, als es ihm gelingt, das Insekt bei einer sich endlich bietenden Gelegenheit durch die Terrassentür aus dem Haus hinaus zu scheuchen. Denn die störenden Reize durch sie einfach ausblenden, das gelingt ihm wegen seiner Hochsensibilität nicht. „Es kommt einfach alles raus und rein, auch Nebengedanken, ohne dass ich das möchte“, erklärt er, was in seinem Kopf vor sich geht.

Er ist anders als andere Menschen – das merkt er schon als Kind

Dass er irgendwie anders ist als andere, habe er schon als Kind gespürt. Inwiefern? Das könne er nicht genau fassen. „Ich war sehr freundlich und lieb und in der Nachbarschaft beliebt. Trotzdem hatte ich keinen besten Freund.“ Einfache Dinge, wie etwa Steine, hätten ihm zum Spielen genügt, an Herumalbern habe er keinen Spaß gehabt. Später als Jugendlicher hätten ihm Discobesuche keine Freude bereitet. In der Schule habe er sich bemüht, immer alles exakt zu machen. „Und gleichzeitig hatte ich Angst zum Streber zu werden.“

Auf viele Außenreize reagierte er mit Rückzug. Eindrücklich in Erinnerung geblieben ist Santamaria, der als Neunjähriger mit seiner Familie nach Deutschland ausgewandert ist, in dieser Hinsicht vor allem eine Zugfahrt zur Verwandtschaft in Italien gemeinsam mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern. „Die Hitze, der Lärm, die vielen Menschen hatten mir so zugesetzt, dass ich noch Tage danach davon wie benebelt war und mit den Verwandten nicht reden konnte.“ Gleichzeitig habe er sich an seinem Verhalten selbst gestört und sich dafür sogar entschuldigt.

Hochsensibilität bringt auch Einfühlungsvermögen und Gewissenhaftigkeit mit sich

Heute versuche er Zugfahrten zu vermeiden. „Oder ich schütze mich mit Ohrstöpseln. Das hilft aber nicht immer.“ Denn er sei nicht nur gegenüber Geräuschen hochsensibel, sondern auch in allen anderen Sinneswahrnehmungen. „Ich könnte als Lebensmittelkontrolleur arbeiten“, scherzt Santamaria. Chemische Geschmacksverstärker, Haltbarkeitsstoffe, Pestizide, all das schmecke er sofort heraus. Erst seit er Bio-Produkte für sich entdeckt habe, könne auch er Essen genießen.

Doch den Eindruck, dass er unter seiner Hochsensibilität leidet, will Santamaria nicht vermitteln. „Ich empfinde sie auch als Gabe.“ So besitze er als Hochsensibler etwa eine überdurchschnittliche Intuition, die ihm im Umgang mit Mitmenschen zu Gute komme. Und von seiner Gewissenhaftigkeit und seinem altruistischen Verhalten, bei dem er sich selbst ganz zurückstelle, hätten unter anderem seine früheren Arbeitgeber profitiert, erzählt der Wahl-Endersbacher, der beruflich zuletzt als Berechnungstechniker in der Entwicklung tätig war.

Vom Phänomen Hochsensibilität erfährt er erst spät

Dabei geholfen, all diese Vorteile auch zu erkennen, hat Santamaria das Wissen um seine Hochsensibilität. Doch davon erfahren, hat er, 1953 in Italien geboren, erst spät. 2015 stach ihm zufällig eine Schlagzeile in einer Gesundheitszeitschrift ins Auge: „Hochsensibel – Gabe oder Plage?“ Beim Lesen des Artikels habe er sich gefühlt, „als würde eine fremde Person über mich schreiben“. „Das war ein befreiendes Gefühl zu wissen, dass ich nicht allein damit bin.“ Wie ein Puzzle hätten sich daraufhin Erlebnisse in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Bild zusammengefügt. In der Folge habe er Strategien gefunden, mit seiner Hochsensibilität besser umzugehen, sich rechtzeitig aus belastenden Situationen zurückzuziehen.

„Ein großes Glück für mich ist auch, dass ich im Dezember 1972 meine Frau kennengelernt habe, die mich akzeptiert wie ich bin, wenn sie mich auch nicht immer versteht.“ Dennoch suchte Santamaria den Kontakt mit anderen Betroffenen. Dafür besuchte er zunächst eine Selbsthilfegruppe in Stuttgart, gründete dann Anfang 2017 eine eigene in Weinstadt. Regelmäßig bietet er seither Treffen zum Erfahrungsaustausch hochsensibler Menschen im Familienzentrum am Endersbacher Bahnhof an und inzwischen auch einmal jährlich gemeinsam mit seiner Tochter Sonja Hotz einen Kurs für Eltern hochsensibler Kinder.