Hans-Dieter Wahl ist Wanderschäfer – wie schon sein Vater und sein Großvater. Der 47-jährige Welzheimer mag seinen Beruf, doch angesichts von immer mehr Vorschriften bezweifelt er, dass dieser eine Zukunft hat.

Welzheim - Nach Ostern will Hans-Dieter Wahl endlich losziehen, hinauf auf die Schwäbische Alb. Der Tross, der ihn dabei begleiten wird, ist groß: Der 47-jährige Welzheimer ist Herr und Hirte über 1200 erwachsene Schafe und 70 Ziegen. Auf der Wanderung zur Sommerweide bei Bissingen an der Teck (Landkreis Esslingen) sorgt Hans-Dieter Wahl mit seiner Frau Birgit und zwei Altdeutschen Schäferhunden dafür, dass kein Schäflein vom rechten Weg abkommt.

 

Bevor der Wanderschäfer sich auf die rund 60 Kilometer lange Reise machen darf, muss ein Amtstierarzt seine Herde untersuchen und eine Triebgenehmigung ausstellen. Auch die Wegstrecke, die durch mehrere Landkreise führt, braucht den behördlichen Segen. Die Bundesstraße 29 quert der Wanderschäfer bei Schorndorf über eine Brücke, durch den Teilort Weiler muss er mitten durch. „Manche Leute sind da nicht begeistert.“ Die Schafbollen sind das eine, warten will keiner, und manchmal müssen ein paar Blümchen als Wegzehrung dran glauben. Bei Nabern läuft Wahl zwei Kilometer auf der Hauptstraße: „Es geht nicht anders wegen der Autobahn. Sonst müsste ich einen Riesenumweg laufen.“

Der Hinweg zur Sommerweide dauert etwa zehn Tage

Für den Weg zur Sommerweide braucht Hans-Dieter Wahl acht bis zehn Tage. Der Rückweg dauert länger. Es kam schon vor, dass der Schäfer vom Winter überrascht worden ist und seine Tiere angesichts von 30 Zentimetern Schnee im Lastwagen heimchauffiert hat. Schon sein Vater ist mit seinen Schafen den Großteil des Jahres auf Wanderschaft gewesen, der Großvater ebenfalls. Hans-Dieter Wahl mag seinen Beruf. Trotzdem sagt er: „Meinen drei Kindern würde ich niemals dazu raten. Ich sehe keine Zukunft in der Schäferei.“ Er wisse nicht einmal, ob er selbst bis zur Rente weitermachen werde angesichts von immer mehr Vorschriften.

Für die Schafe bleibe zu wenig Zeit, findet Wahl, der auf dem Kopf einen Filzhut mit breiter Krempe trägt, in den Ohrläppchen blitzen goldene Minischafe. Hans-Dieter Wahl sagt, er sei der jüngste Schäfer in seiner Generation: „Wenn ich nach hinten gucke, sehe ich nicht viel, was nachkommt.“ Kein Wunder bei einer Sieben-Tage-Woche und einem Stundenlohn von durchschnittlich 4,75 Euro. „Was Schäfer in der Landschaftspflege leisten, das sieht keiner“, klagt Wahl, dessen Schafe und Ziegen bei Bissingen ein 200 Hektar großes Gebiet vor dem Verbuschen bewahren. „Wir sind eine kleine Gemeinschaft und haben keine Lobby.“ Der Schäfer und seine Kollegen haben schon diskutiert, ob sie nicht mal ein Jahr lang mit den Pflegemaßnahmen pausieren sollen, damit deutlich wird, wie schnell sich die Landschaft ohne die Arbeit der Schäfer und ihrer lebenden Fressmaschinen verändert. Doch wer kann schon auf seinen Verdienst verzichten.

Das Schönste ist die Wanderschaft

Geschoren werden die Merino-Landschafe in Bissingen. „Aber das Scheren kostet mehr, als die Wolle einbringt.“ Normalerweise lammen die Muttertiere auf der Sommerweide, doch der lange Winter hat den Zeitplan durcheinander gebracht. So ist der Nachwuchs in Welzheim zur Welt gekommen, 600 Lämmer stehen mit ihren Müttern im Stall. Fünf Wochen waren die Wahls Tag und Nacht bei den Schafen. „Meine haben den Vorteil, dass sie morgens lammen“, sagt der 47-Jährige. Trotzdem: 25 bis 30 Lämmern täglich auf die Welt zu helfen, ist Knochenarbeit.

Rund 200 Tiere wird er für die Nachzucht behalten, die übrigen schlachtet der Schäfer auf seinem Hof, wo er das frische Fleisch, Lammwurst und Felle verkauft. Immerhin müssten die Lämmer so keinen strapaziösen Transport über sich ergehen lassen, sagt er. Das Winterquartier ist eine teure Angelegenheit für Wahl, denn hier muss er füttern. Auch unterwegs hat er Probleme, seine Tiere satt zu bekommen: Immer mehr Wiesen werden in Äcker umgewandelt, um Nachschub für Biogasanlagen zu erzeugen. Trotzdem streift er bald sein schwarzes Gewand über – „wie ein Pfarrer“ – und greift zur Schippe, dem Stützstab, mit dessen Haken er auch ein Schaf fangen kann. Dann zieht er los. „Das Schönste ist die Wanderschaft.“