Das Renitenztheater geht in seine 64. Spielzeit. Für Roland Mahr ist es die zweite als Intendant. Im Interview erläutert er seine Vision von Theater, in der Kinder und Jugendliche eine wichtige Rolle spielen, und verrät, wie er als ehemaliger Wiener Stuttgart sieht.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Tag der offenen Tür an diesem Sonntag im Renitenztheater. Was liegt da näher, als den Gastgeber, Intendant Roland Mahr am Eingang zu seinem Theater abzubilden. Der Bitte des Fotografen kommt er gerne nach und spricht anschließend über die Bühne, die ihm viel bedeutet.

 

Herr Mahr, die Sommerpause ist vorbei. Mit wie viel Energie starten Sie in die neue Spielzeit?

Mit sehr viel positiver Energie. Wir haben im Sommer „Steinsuppe“ geprobt. Das hat mir als Regisseur und Mitautor vielleicht sogar mehr Energie gegeben, als ein Urlaub.

Sie meinen Ihr Kinder- und Familienstück um einen alten Wolf, der zusammen mit anderen Tieren Suppe kocht?

Ja, damit sind wir in der letzten Saison rausgekommen. Das war mein Einstieg als Intendant. Manche haben gefragt: Warum macht eine Kabarettbühne plötzlich ein Kinderstück? Der Grund war die Corona-Pandemie. Mein Eindruck ist, dass bei den Kindern und Jugendlichen am meisten schief gegangen ist. Das meine ich nicht vorwurfsvoll, weil man im Nachhinein immer klüger ist. Dennoch waren die Schulschließungen und das Kappen von sozialen Kontakten für Kinder und Jugendliche ein Riesenproblem. Die Auswirkungen werden uns vermutlich noch länger beschäftigen. Nach dieser schwierigen Phase wollte ich Kindern ein schönes Theatererlebnis bieten. Wir haben Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen, um auch Kinder zu erreichen, die nicht von Haus aus Zugang zu Kunst und Kultur haben. Das Ganze wurde auch pädagogisch begleitet. Nach der Vorstellung habe unsere Schauspielerinnen die Kitas und Grundschulklassen besucht, um das Erlebte nachklingen zu lassen.

Wie war die Resonanz?

Wir haben damit mehr als 3500 Kinder und Jugendliche und ihre Eltern erreicht und sehr schöne Rückmeldungen bekommen. In der neuen Spielzeit steht das Stück wieder auf dem Programm. Gerne würden wir auch wieder in Kitas und Grundschulen gehen. Das hängt aber davon ab, welche finanziellen Mittel uns zur Verfügung stehen.

Kinder und Jugendliche behalten im Programm des Renitenztheaters also einen festen Platz?

Ja, diesen Strang möchte ich beibehalten, nicht nur weil die Zukunft des Theaters vom Nachwuchs abhängt. Ich bin auch davon überzeugt, dass es angesichts der medialen Flut direkte Live-Erlebnisse und Begegnungen braucht. Ein Theater ist ein theatralischer Ort. Es lebt von Licht und Emotion, von Magie und von Verwandlung. Manche Kinder waren noch nie im Theater. Und wenn die dann da aufgeregt sitzen und das Licht geht an, dann macht das etwas mit ihnen.

Das Renitenztheater hat eine lange Tradition als politisches Kabarett. Welche Rolle spielt das heute noch?

Ich finde das weiterhin sehr wichtig. Aber es ist nicht mehr so populär. Die Welt ist komplizierter geworden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war klar: Kabarett stand links, und die Leute hatten Sehnsucht nach Aufbruch und neuen Ideen. Heute leben wir in einer anderen Zeit – geprägt von komplexen Konflikten und einem enorm hohen Tempo in den Medien.

Was bedeutet das für das Kabarett?

Der Begriff Kabarett klingt heute leicht sperrig. Im Fernsehen wird von Comedy und Satire gesprochen. Aus meiner Sicht geht es darum, neue Formen zu finden, das Politische in eine theatrale Form zu bringen. Ich denke da sehr vom Theater her. Das versuchen wir auch in unseren Eigenproduktionen umzusetzen – etwa in „Degerloch Dreams“, wo ein naiver Lehrer, der mit seiner zukünftigen Exfrau, seiner aktuellen Frau und seiner Tochter in Degerloch auf kleinem Raum lebt. Über diese Figuren mit ihren Lebensentwürfen kommen auch politische Themen – Umweltschutz, Klimawandel, Demokratie - in den Alltag mit hinein.

Wo verläuft die Grenze zu den Comedians?

Comedy geht mehr ins Private. Aber Sie finden auch da tolle Leute mit Haltung. Nur es ist dann eben nicht mehr das klassische politische Kabarett, das man mit Figuren wie Dieter Hildebrandt verbindet und das auch sehr moralisch war. In Deutschland neigt man dazu, alles in Schubladen zu stecken. Das ist in Österreich oder in Frankreich anders. Dort ist ein Chanson ein Lied, hier ist ein Chanson eine ganz besondere Form des Liedes. Ich will diese Einteilung auch nicht verteufeln, aber manchmal kann man sich das Leben auch schwerer machen, als es ist.

Der Comedian Luke Mockridge hat jüngst in einem Podcast Witze auf Kosten von Behindertensportlern gemacht. Was für eine Haltung ist das?

Bei ihm habe ich den Eindruck, dass manchmal irgendwelche Synapsen durchgehen. Ich denke, man sollte sich immer vorher überlegen, was will ich auf der Bühne reproduzieren und was will ich den Leuten mitgeben. Wenn ich nur beleidigen will, dann ist das zu wenig.

Worin sehen Sie die Aufgabe des Theaters – auch angesichts des Rechtsrucks in der Gesellschaft?

Die Entwicklung ist in der Tat besorgniserregend. Ich möchte trotzdem die Hoffnung nicht verlieren. In unseren eigenen Stücken geht es immer um Lebensentwürfe und um das Verhandeln von Lebensträumen. Das ist für mich ein zentraler Punkt des Theaters. Gerade bei Kindern oder Jugendlichen ist es wichtig, dass sie Träume so lang wie möglich leben dürfen, weil die harte Realität schnell genug einsetzt. Auch Erwachsene sollten noch träumen können. Ein Ort dafür ist das Theater, wo es immer auch um Begegnung geht.

In jeder Spielzeit geben Sie eine Leitfrage aus. Die jetzige lautet: Wo können wir wohnen? Was beabsichtigen Sie damit?

Die Frage nach dem Wohnen beschäftigt mich schon länger gerade angesichts von Wohnungsnot und der hohen Preise. Ich gehe gerne mit dem Hund spazieren. Da kommt man an verschiedenen Häusern vorbei – mal an einem Wohnblock, mal an einem großen Einfamilienhaus und überlegt sich, wie geht es den Leuten da drin, Welche Perspektiven haben sie? Unsere vorherige Leitfrage war: Wie wollen wir zusammenleben? Als Kulturschaffende können wir die Welt nicht verändern. Wir können immer nur Anreize schaffen, sich über Fragen der Zeit Gedanken zu machen, und diese Fragen in die Gesellschaft rauszuschicken, wo sie im Idealfall weiterbearbeitet werden.

Sie haben lange in Wien gelebt und leben jetzt schon länger in Stuttgart. Wie nehmen Sie die Stadt wahr?

Ich denke, dass Stuttgart eine sehr lebendige Stadt ist. Ich würde ihr noch mehr urbane Orte wünschen, wie den umgestalteten Schützenplatz. Da verweilt man gerne. Oder der Superblock in der Augustenstraße im Stuttgarter Westen. Das sind Orte der Begegnung.

Sehen Sie eine spezifische Stärke von Stuttgart?

Mir wurde oft erzählt, dass man die Schwaben erobern muss, und sie sehr treu sind, wenn man sie dann erobert hat. Ich glaube auch, dass Stuttgart eine Stadt ist, die sich selbst immer wieder Dinge erobert. Manches wird hier erst erfunden, was in anderen Metropolen gefühlt schon immer da ist – das Kunstmuseum war für mich in der Entstehung so ein Beispiel. Ich finde Stuttgart eine tolle Stadt, in der man sehr gut leben kann. Außerdem gibt es hier eine irrsinnig reiche Kulturlandschaft und ein sehr offenes Publikum.

Person und Programm

Der Intendant
Roland Mahr, geboren 1975 im Burgenland an der Grenze zu Ungarn, studierte Musikwissenschaften und Europäische Ethnologie in Wien. Seine erste professionelle Theaterproduktion bestritt er in seiner Jugend als Bühnenmusiker. Später studierte Mahr Kulturmanagement in Ludwigsburg und übernahm die Geschäftsführung des Württembergischen Kammerchors. 2011 wurde er Kaufmännischer Direktor. Seit 2023 leitet er das 1961 von Gerhard Woyda gegründete Renitenztheater als Intendant. Ehrenamtlich engagiert er sich im Vorstand der Stiftung Hospitalhof sowie im Forum Hospitalviertel. Roland Mahr ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er lebt mit seiner Familie, einem Hund und zwei Katzen in Stuttgart.

Tag der offenen Tür
An diesem Sonntag, 15. September, lädt das Renitenztheater von 11 bis 17 Uhr zum Tag der offenen Tür in seine Räumlichkeiten in die Büchsenstraße 26. Die Besucher erwartet dort laut Roland Mahr eine „bunte schar an Künstlern“, wie Schauspieler Walter Sittler und Musicalstar Kevin Tate, den rappenden Comedian Johann Theisen, Liederpoetry mit Mackefisch und Mitglieder des „Orchesters der Kulturen“.