Der französische Präsident geht auf Ganze: Er will die Rentenreform ohne Abstimmung in Kraft setzen. Die Opposition läuft dagegen Sturm.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

So etwas hatte die altehrwürdige Nationalversammlung in Paris wohl noch nie gesehen: Als die Premierministerin Elisabeth Borne ans Rednerpult trat, um die Rentenreform zu verteidigen, erhob sich die Linksopposition geschlossen von den Bänken und stimmte die Marseillaise an. In einem allgemeinen Geschrei hielten sie Transparente mit der Aufschrift „Nein zu den 64 Jahren“ hoch.

 

Die Parlamentsvorsitzende musste die Sitzung unterbrechen. Minuten später trat Borne erneut vor die Abgeordneten, um einen Regierungsbeschluss bekannt zu geben: Das um zwei Jahre erhöhte Rentenalter 64 wird vermittels des Verfassungsartikels 49.3 ohne Abstimmung in Kraft gesetzt.

Es könnte in Frankreich zu Neuwahlen kommen

Diese „institutionelle Brechstange“, wie Juristen sie nennen, hilft der Exekutive, einen Gesetzestext zu genehmigen, ohne sich auf eine riskante Abstimmung einzulassen. Dafür muss sich die Regierung Borne einer Vertrauensabstimmung stellen. Verliert sie sie, kommt es wohl zu Neuwahlen.

Noch am Donnerstagmorgen hatten die meisten Beobachter damit gerechnet, dass Macron die Rentenreform dem Parlament zu einer regulären Abstimmung unterbreiten würde. Seine Partei Renaissance schien zusammen mit den Républicains die absolute Mehrheit von 289 Stimmen in der 577-köpfigen Nationalversammlung ganz knapp zu erreichen. Offenbar erachtete Macron das Risiko einer Abstimmungsniederlage dann aber doch für zu hoch: Er gab seiner Regierungschefin Anweisung, die Rentenreform per Artikel 49.3 durchzudrücken.

Dass es Borne im Parlamentsrund kaum nur schaffte, den Entscheid in dem allgemeinen Tohuwabohu bekannt zu machen, zeigt die Virulenz des politischen Widerstandes gegen die Reform. Hunderttausende von Demonstranten waren seit Januar an acht Protesttagen gegen die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre auf die Straße gegangen. Streiks legten den öffentlichen Verkehr, Ölraffinerien und neuerdings auch die Müllabfuhr lahm. Allein in Paris stauen sich derzeit 8000 Tonnen Abfall, was die chronische Rattenplage der Stadt befördert.

In ersten Reaktionen sprachen Politkommentatoren nicht etwa von einem Sieg, sondern von einem „herben Rückschlag“ für Macron. Dass er den – faktisch dem Präsidenten vorbehaltenen –Artikel 49.3 aktivieren müsse, um sein wichtigstes Politprojekt durchzubringen, verheiße nichts Gutes für das Regierungslager – und für die Reform.

Rund 70 Prozent der Franzosen lehnen die Reform ab

Vor der Nationalversammlung erklärte der Vorsteher der Landesgewerkschaft CGT, Philippe Martinez, der Kampf gehe „bis zum Rückzug der Reform“ weiter. Die Linksabgeordnete Raquel Garrido sagte, wenn Macron den „Revolver der Demokratie“ – sie meinte den Artikel 49.3 – ziehe, werde der Staatschef die öffentliche Meinung stärker gegen sich aufbringen. Bisher lehnen in Umfragen 70 Prozent der Befragten die Reform ab.

Macron hat persönlich von den Rentenwirren an sich nichts zu befürchten: Der Präsident sitzt von der Verfassung her fest im Sattel. Die Regierung mit Premier Borne könnte aber über die Vertrauensabstimmung zu Fall kommen, wenn sie die Vertrauensabstimmung verliert. Neuwahlen scheinen derzeit wenig wahrscheinlich, da die wenigsten Parteien dafür bereit wären. Wenn Macron aber an seiner Reform festhält und die Opposition dagegen nicht abflaut, ist diese Eventualität nicht mehr auszuschließen.