In einer seltenen Ansprache gibt sich Staatschef Wladimir Putin in der Rentendiskussion als Schlichter. Er stellt sich zwar hinter seine Regierung, geht aber als Landesvater auf das aufgebrachte Volk zu - wenn auch nur mit kleinen Schritten.

Korrespondenten: Inna Hartwich

Moskau - Wladimir Putin sprach ruhig, hin und wieder nahm er seine Hände zu Hilfe. „Ich verstehe Ihre Sorgen“, sagt er in seinem braunem Holzstuhl. „Verstehe sie gut und wende mich an Sie direkt, um alles objektiv und ehrlich zu erklären und meine eigenen Positionen darzulegen.“ Eine halbe Stunde Zeit hatte sich der Kremlchef genommen, um in einer am Mittwoch landesweit übertragenen Sonderansprache im Fernsehen seinem Volk mitzuteilen, wie es um die Rentenreform steht, die seine Regierung just am Tag des Fußball-WM-Eröffnungsspiels im Juni ins Parlament eingebracht hatte.

 

Erstmals seit 80 Jahren soll das Renteneintrittsalter erhöht werden. Bisher sei das Land nicht bereit für eine Änderung des Rentensystems gewesen, sagte Putin. „Aber jetzt ist es unmöglich, das weiter aufzuschieben. Es wäre unverantwortlich und könnte dramatische Folgen in der Wirtschaft nach sich ziehen.“ Konkret sollen Männer bis zu einem Alter von 65 Jahren arbeiten, also fünf Jahre länger als bisher. Entgegen den Vorstellungen seiner Regierung will Putin aber das Eintrittsalter für Frauen nur auf 60 Jahre anheben, nicht auf 63. „Wir haben eine ganz besondere Beziehung zu Frauen in unserem Land, eine fürsorgliche“, argumentierte er. Deshalb müsse man den Frauen Zugeständnisse machen. Die Maßnahmen sollen schrittweise erfolgen: Alle zwölf Monate soll das Eintrittsalter um ein Jahr erhöht werden. Für Russen, deren Lebenserwartung ungleich niedriger ist als bei Menschen im Westen, sind das harte Einschnitte.

Putins Umfragewerte sinken

Die Rentenreform geht nicht spurlos an den Umfragewerten des sonst beliebten Präsidenten vorbei. Der Groll äußerte sich sogleich in Protesten und tiefen Umfragewerten. 89 Prozent, so rechnet das unabhängige Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada vor, seien gegen die Reform. Die staatlichen Meinungsforscher von Wziom bescheinigen Putin Zustimmungswerte von lediglich 38 Prozent.

Putin selbst hatte stets betont, die Pläne seien der Regierung zuzurechnen, er selbst habe schließlich stets gesagt, mit ihm als Präsidenten werde es Veränderungen solcher Art nicht geben. Ein Versprechen, das ihm gerade unter Älteren stets große Zustimmung eingebracht hatte. Diese Veränderungen aber müssten nun sein: wegen des demografischen Wandels, wegen der Lebensqualität im Alter, wegen der Sicherheit des Landes. Zuvor sei eine solche Reform wegen der wirtschaftlichen Lage nach dem Schock der 1990er Jahre nicht möglich gewesen. Seit 2016 erhole sich das Land. „Wir müssen uns fragen, was in 15, was in 20 Jahren ist“, sagte der rhetorisch begnadete Präsident, der seine Sätze immer wieder mit „Schauen Sie, ich wiederhole, ich verstehe natürlich“ anfing.

Die Opposition spricht von Diebstahl

Es war ein Appell Putin’scher Art, um die Proteststimmung im Land einzudämmen, in dem die Rente – im Durchschnitt liegt sie bei umgerechnet nicht einmal 200 Euro – in manchen Regionen das einzige Einkommen für mehrere Generationen einer Familie ist. Der Opposition, die auch für diesen Sonntag zu Protesten gegen die Reform aufruft, wirft er „Selbst-PR“ vor. Es sei unverantwortlich, die Rentenpläne weiter aufzuschieben. „Je später die Schritte kommen, desto härter werden sie sein“, sagte Putin. Sechs Punkte legte er dar, um die Reform abzufedern, und wurde seiner Rolle als sich stets sorgender Landesvater gerecht. So versicherte er, gewisse Vergünstigungen, wie etwa die Besteuerung von Wohneigentum, die Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs, der Kauf von Medikamenten, sollen ans Alter allgemein und nicht mehr an die Rente gebunden werden. Ausnahmen soll es ebenfalls für Minenarbeiter, für Dorfbewohner oder auch für Tschernobyl-Überlebende geben. „Es ist alles nicht einfach, aber notwendig. Ich bitte um Verständnis.“ Im Herbst soll über die Reform abgestimmt werden. 

Oppositionelle kritisierten Putin scharf. „Ihr werdet, liebe Freunde, nur etwas weniger bestohlen“, kommentierte der Kremlkritiker Alexej Nawalny. Auch sein Kollege Ilja Jaschin kommentierte: „Putin nimmt zwölf Millionen Menschen die Rente weg und begründet das mit der Sorge um die Stabilität des Rentensystems.“