Die evangelische Landeskirche hat genau wie die katholische Diözese Rottenburg-Stuttgart eine repräsentative Umfrage zur Nähe der Menschen an die Kirche gestartet. Das Ergebnis: Gerade bei den sozial schwachen Menschen spielt die evangelische Kirche kaum eine Rolle.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Beinahe zeitgleich haben die evangelische Landeskirche und die katholische Diözese Rottenburg-Stuttgart große repräsentative Umfragen zur Nähe der Menschen an die Kirchen gestartet; die Ergebnisse liegen jetzt vor. Der Grund für diese Studien ist klar: Die evangelische Kirche beispielsweise hat in Stuttgart seit 1975 fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren – heute sind noch rund 160 000 Menschen in der Landeshauptstadt evangelisch. Ziel der Studien sollte deshalb sein, kirchliche und religiöse Angebote für Gruppen zu entwickeln, die bis jetzt wenig erreicht werden.

 

Der Stuttgarter Theologieprofessor Heinzpeter Hempelmann führte diese erste Milieustudie für die württembergische und badische Landeskirche durch, zusammen mit dem Sinus-Institut in Heidelberg. Noch liegt erst ein Werkstattbericht vor. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart beauftragte das Pragma-Institut in Reutlingen (wir berichteten). Mehrere Tausende Menschen wurden befragt, auch Nichtkirchenmitglieder.

In bürgerlichen Kreisen gut situiert

Die evangelische Kirche ist stark bei den „Sozialökologischen“

Ein gewaltiges Problem erwächst der evangelischen Kirche daraus, dass sie längst nicht alle Schichten erreicht. Das Sinus-Institut hat die Bevölkerung in zehn Gruppen eingeteilt. Es hat sich gezeigt, dass die evangelische Kirche in den bürgerlichen Gruppen gut situiert ist. Sehr stark ist sie bei den „Sozialökologischen“. Allerdings ist sie kaum attraktiv für die Gruppe der prekären und sozial schwächeren Menschen: Deren Bevölkerungsanteil liegt bei acht Prozent; in der Kirche ist diese Gruppe aber nur mit etwa drei Prozent vertreten.

Das Ergebnis könnte kaum schmerzhafter sein. „Wir wenden uns diesem Milieu in der diakonischen Arbeit zu, die Kirche ist aber dort kaum verankert“, sagt Hempelmann: „Man ist nicht evangelisch und prekär.“ Gerade die Kirche, die stolz darauf ist, den schwächeren Menschen zu helfen, muss nun also feststellen, dass es keine Begegnung auf Augenhöhe ist.

Vergleich mit katholischer Studie ist schwierig

Auch die katholische Umfrage hat die Milieus untersucht; wegen einer anderen Perspektive, bei der beispielsweise das Einkommen keine so große Rolle spielt, ist ein direkter Vergleich nicht möglich. Laut Reiner App, dem Leiter des Pragma-Instituts, ist die katholische Kirche nicht nur im bürgerlichen Milieu, sondern auch in der wichtigen Leitgruppe der engagierten und kommunikativen Menschen sehr gut vertreten. Extreme Verwerfungen in schwächeren Milieus hat Pragma nicht festgestellt.

Enge Bindung vorhanden

Einige andere Ergebnisse sind nicht ganz so alarmierend. So ist die Bindung der meisten Menschen an ihre Kirche hoch: In beiden Kirchen gaben 75 Prozent an, noch nie an einen Austritt gedacht zu haben. Die „Risikogruppe“ mit 25 Prozent ist allerdings nicht klein, wobei unter den evangelischen Mitgliedern nur sieben Prozent sagten, sicher oder wahrscheinlich auszutreten. Beide Untersuchungen haben zudem ergeben, dass es ein ausgeprägtes Bedürfnis der meisten Menschen gibt nach einer Kirche, die in der Gesellschaft präsent ist.

Hohe Wertschätzung weit über die Mitglieder hinaus

Die Kirchen genießen hohe Wertschätzung weit über die reinen Mitglieder hinaus. Allerdings gibt es keinen Grund, sich nun zufrieden zurückzulehnen: Denn immerhin 18 Prozent der evangelischen Mitglieder meinten, dass ihr Glaube nicht zur evangelischen Kirche passe. Bei der katholischen Kirche wurde vor allem Offenheit und Toleranz eingefordert.

Der Glaube spielt weiter eine Rolle

In der evangelischen Studie wurde auch nach der religiösen Einstellung gefragt – und die ist doch sehr stark. So gaben 80 Prozent der Kirchenmitglieder an, dass sie an einen Gott glauben, der sich in Jesus Christus zu erkennen gibt. Für zwei Drittel gehört das Beten zum Alltag. Auch der Wunsch nach kirchlicher Begleitung bei Übergangsphasen des Lebens, wie Taufe oder Hochzeit, ist groß. Die Aussage „Es ist mir wichtig, einmal kirchlich bestattet zu werden“ kreuzten 83 Prozent als zutreffend an. Der Wert ist so hoch, dass Hempelmann vermutet, dahinter stecke einer der wichtigsten Gründe, der Kirche treu zu bleiben: „Niemand weiß, was nach dem Tod kommt. Viele haben deshalb ein hohes metaphysisches Absicherungsbedürfnis.“

Erste Konsequenzen diskutiert

Kirche erarbeitet ein „milieusensibles Taufmanual“

Die Ergebnisse der evangelischen Umfrage waren im November bei der Landessynode vorgestellt worden, derzeit wird die Studie intensiv in der Kirche diskutiert, und es werden erste Konsequenzen erarbeitet. So will die Kirche bis Mitte des Jahres ein „milieusensibles Taufmanual“ vorlegen. Dabei denke man vor allem an pragmatische Dinge, sagt Oliver Hoesch, der Sprecher der Landeskirche Württemberg. So würden eher bedürftige Eltern ihr Kind vielleicht deshalb nicht taufen lassen, weil die Feier zu teuer sei oder man keinen Raum habe – da könne die Kirche Angebote machen.

Hempelmann hält es weiter für notwendig, in der Beratung der Menschen präsenter zu sein und neue Arbeitsfelder zu besetzen, zum Beispiel Angebote für eine positive Gestaltung des Alters. Vielleicht seien sogar ganz neue Berufe nötig, wie der des christlichen Sozialarbeiters.

Grundsätzliche Kritik an der Studie

Ob die evangelische Kirche noch stärker ihre Gottesdienste in Richtung Event hin entwickelt, bleibt abzuwarten. Schon heute, sagt Christoph Schweizer, der Sprecher der evangelischen Kirche in Stuttgart, sei in den Gottesdiensten viel möglich. Ein Beispiel sei die „Nachtschicht“ in der Andreaskirche in Obertürkheim: zu seinen Abendgottesdiensten lädt Pfarrer Ralf Vogel Musikgruppen und Gesprächspartner ein. „Offener geht kaum noch“, sagt Schweizer.

Hempelmann ist auf jeden Fall der Meinung, dass sich die Kirche auf die Lebenswelt aller Milieus einlassen muss. Das sehen nicht alle so, es gibt auch sehr grundsätzliche Kritik an der Studie. Das Ergebnis sei nicht neu, und auch die Konsequenzen seien schwierig: „Es ist eine Fiktion zu glauben, dass man die Menschen nur richtig ansprechen müsse, um sie für die Kirche zu gewinnen“, heißt es. Das funktioniere nur in engen Grenzen. Zudem müsse man aufpassen, keinen zu großen missionarischen Eifer zu entwickeln. Hempelmann ist anderer Meinung: „Wir haben ein gutes Produkt und ein gutes Angebot – es ist nicht verwerflich, das bekanntzumachen.“