Sage und schreibe 90 Millionen Hühner werden in Deutschland jedes Jahr getötet. Das sind männliche Küken, die die Lebensmittelindustrie für nutzlos erklärt. Und Legehennen, die nicht mehr genug Eier legen. Jörg Berle und Karin Eheim wollen das Leben dieser Hennen retten.

Ludwigsburg - Frau Silberfuß ist eigen. Sie ziert sich und mag nicht aufs Foto. Doch dem Mehlwurm kann sie nicht widerstehen. Ein Griff und Jörg Berle hat sie geschnappt. Frau Silberfuß kuschelt sich in seine Arme und pickt am Reißverschluss herum. Sie fühlt sich saumäßig wohl – wenn man das über ein Huhn sagen darf. „Sie schmusen für ihr Leben gern“, sagt Berles Lebensgefährtin Karin Eheim über Frau Silberfuß und ihre vier Artgenossinnen, die bei den beiden im Hinterhof mitten in der Ludwigsburger Innenstadt leben. Totgeweiht waren sie, auf sie wartete der Schredder. Nun dürfen sie ihr Gnadenbrot bei Berle und Eheim genießen. Zwei, drei Jahre haben sie noch zu leben.

 

Frau Silberfuß heißt übrigens Frau Silberfuß, weil ihre Krallen wund und eitrig waren, als sie zu Berle und Eheim kam. Eine Metalltinktur heilte nicht nur, sondern ließ auch die Krallen glänzen. So wurde aus einem namenlosen Huhn Frau Silberfuß. Namen sind nicht vorgesehen für Lohmann-Brown-Hühner. Eigentlich sind sie Eierlegemaschinen. Nicht ganz zufällig sind sie nach der Firma benannt, die sie, nun ja, entwickelt hat. So muss man das wohl nennen.

Die Hennen sind Einjahreshühner

Lohmann Tierzucht hat verschiedene Rassen gekreuzt, bis Lohmann-Brown-Hühner schlüpften. Die männlichen Kükenwerden gleich getötet, weil sie keine Eier legen und nicht als Masthähne taugen. Die Leistungsdaten ihrer Schwestern laut Webseite des Unternehmens: „Eier je Anfangshenne 295 bis 300. Futterverbrauch: 43 kg. Lebensfähigkeit: Legeperiode 90 bis 96 Prozent.“ Das bedeutet, im Stall stirbt eine von zehn Hennen. Spätestens nach 18 Monaten liegt die Lebensfähigkeit bei null Prozent. Sie sind Einjahreshühner. Gezüchtet, um viele Eier zu legen. 300 im Jahr müssen es sein, damit der Bauer noch was verdient. Ungefähr zehn Cent bleiben ihm pro Ei, zahlt er seine Ausgaben, bleibt knapp ein Cent Gewinn übrig. Also muss das Huhn funktionieren. Tut es das nicht mehr, legt es nur noch vier Eier in der Woche, wird es getötet. Geschreddert, oft bei lebendigem Leib. Es endet als Pulver in der Hühnerbrühe oder als Fleischfetzen im Hundefutter.

Weil sich Hybridhühner nicht fortpflanzen können, wird auf einen Schlag der ganze Stall geleert. Tausende Hühner werden zum Schlachter gefahren, Tausende neue Hühner ziehen ein. Hier kommt der Verein „Rettet das Huhn“ ins Spiel. 2007 kam Katja Tippelmann auf die Idee, den Bauern die Legehennen abzukaufen und ihnen eine neue Heimat für einen schönen Lebensabend zu besorgen. 45 000 Legehennen hat der Verein seitdem vermittelt. 2013 nahmen Berle und Eheim ihre ersten Hühner auf. Karin Eheim hatte im heimatlichen Dorf im Kochertal Hühner lieben gelernt. „Ich bin halt ein Landei“, sagt sie, „ich wollte gerne Hühner, und dann sind wir über das Internet auf den Verein aufmerksam geworden.“ Und wie das so ist, wenn man irgendwo mitmacht, plötzlich war Jörg Berle Vermittler. Das heißt, er sucht Menschen im Großraum Stuttgart, die ebenfalls Hühner halten möchten. Gut 30 Abnehmer haben sie bisher, noch mal so viele suchen sie. Denn am 10. und 11. Dezember holen sie von einem Betrieb in Bayern 4500 Hühner. Tausend sollen hier in der Gegend unterkommen.

Alterswohnsitz gesucht

Viel braucht es dafür nicht. Sieben bis zehn Quadratmeter Platz pro Huhn, einen Zaun, ein Häuschen, einen Sandplatz zum Baden und Putzen. „Wir haben auf unserer Webseite eine Anleitung“, sagt Berle, „aber wir helfen natürlich auch.“ Und prüfen, ob der Alterswohnsitz geeignet ist. Die Pflegeeltern brauchen allerdings Geduld. Die Hühner kennen nur ihre Halle, „sie trauen sich zunächst nicht ins Freie“, sagt Berle. Erst langsam müssen sie sich daran gewöhnen, dass ihre Welt größer geworden ist. Und sie sehen grauslich aus. Oft nackig und wund, weil sich die Hühner gegenseitig verletzen. Eheim: „Normalerweise leben sie in Gruppen von 20 Hühnern zusammen.“ Da ergebe sich eine Hackordnung. Jeder kennt seine Mithühner und seinen Platz. Wenn sie allerdings mit Tausenden von Artgenossen eingepfercht seien, führe das dazu, dass sie sich die Gesichter nicht merken könnten und Tag für Tag die Hackordnung aufs Neue auskämpfen. Hinzu kommen Krankheiten und ungenügende Bewegung. Damit die Wunden nicht gar so tief sind, werden den weiblichen Küken die Schnäbel kupiert, also die Spitzen abgeschnitten. „Das ist zutiefst grausam“, sagt Berle, „das schmerzt, manche Hühner haben danach Probleme zu fressen.“

Ökobetriebe verzichten darauf, allerdings geht es auch bei ihnen eng zu. In Boden- und Freilandhaltung teilen sich 18 Hühner einen Quadratmeter, im Biobetrieb sind es bis zu zwölf Hühner. Sie haben Auslauf – wenn sie sich denn raustrauen. Ein Idyll sei so ein Biohof im seltensten Falle, sagt Berle. Laut der Organisation Foodwatch leben in Ökobetrieben im Schnitt 13 500 Hühner.

Wenn Berle und Eheim im Dezember die Hühner aus der Halle holen, müssen sie sich anziehen, als ob es in ein Atomkraftwerk ginge. Der Keime wegen. Aber man watet auch knöcheltief durch den Kot und auf dem Boden liegen tote Hühner. Eheim: „Und unser Betrieb ist einer der vorbildlichen.“ Die Hühner sind malträtiert und ängstlich, „doch sie erholen sich schnell“, sagt Berle. Nach einiger Zeit verhalten sie sich wieder wie gewöhnliche Hühner. Sie scherren, baden im Sand, flattern – und legen Eier. Immer noch so viele, dass Eheim und Berle sie an die Nachbarn verschenken. Es sind Eier von wirklich glücklichen Hühnern.

Wer Hühner aufnehmen möchte, kann sich bei Jörg Berle melden. Kontakt über E-Mail: joerg-bw@rettetdashuhn.de