Experten diskutieren derzeit, wie der Landesrettungsdienstplan neu gestaltet werden kann. Das hört sich nach Bürokratie an, kann im Zweifel aber über Leben oder Tod entscheiden. Denn im Notfall läuft längst nicht alles rund.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Im Rettungsdienst gibt es eine goldene Regel, die jeder kennt: Innerhalb einer Stunde kann man das Leben eines Infarktpatienten oder eines Unfallopfers mit schweren Verletzungen retten. Die Fachleute nennen diese 60 Minuten, in denen jede Sekunde zählt, die „golden hour“. Die Arbeit im Rettungsdienst ist aber nicht nur ein Wettrennen gegen die Zeit, sondern auch ein ständiges Kämpfen gegen bürokratische Hürden, Sparkurse und andere Widrigkeiten. Das kam am Freitag bei der Expertenrunde unter dem Titel „Notruf 112 – und alles wird gut?“ zur Sprache. Geladen hatten zu der Runde im Rathaus das Forum Notfallrettung Stuttgart und die Bürgerinitiative Rettungsdienst.

 

Es gibt alarmierende Zeichen, dass gar nicht alles gut ist, wenn jemand Alarm schlägt in Baden-Württemberg, sagte Joachim Spohn von der Bürgerinitiative. Ein Beispiel: seine Organisation habe vor zwei Jahren versucht, herauszufinden, wie viele Notrufe direkt durchkommen, wenn sie bei der Leitstelle eingehen, wie viele in der Warteschleife landen und wie oft ein Unfallopfer oder sonst in eine Notsituation geratener Mensch geortet werden muss. Vom Innenministerium gab es eine ernüchternde Antwort: Die Zahlen gebe es nicht. Man solle sich an die zuständigen Leitstellen wenden. Dort erhielt er eine erschreckende Antwort: Es gebe die Zahlen, sie seien aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Es gibt noch viel zu tun

Auch wenn es für die Experten schwierig ist, an die Grundlagen und Fakten zu kommen, wollen sie dennoch nicht locker lassen, für die Patienten in Not stetig Verbesserungen zu erreichen. Denn auch ohne Datenanalyse wissen sie: Es gibt trotz einiger Verbesserungen in den zurückliegenden Jahren noch viel zu tun. Die Bürgerinitiative Rettungsdienst und das Forum Notfallrettung wittern dazu nun die Chance. Denn in diesem Jahr wird der Landesrettungsdienstplan überarbeitet. Er ist die Grundlage für die Arbeit der Lebensretter. Mit Positionspapieren haben die Verbände den Innenminister Reinhold Gall (SPD) auf die Probleme aufmerksam gemacht, die sie im Rettungswesen sehen.

Die Expertenrunde hinterfragte zum Beispiel die Hilfsfrist, das ist der Zeitraum, innerhalb dessen das Rettungsfahrzeug beim Patienten sein muss. Zehn Minuten, höchstens 15 Minuten in 95 Prozent der Fälle, so lautet die Vorgabe. „Das ist juristischer Schwachsinn“, sagte der Chef der Stuttgarter Feuerwehr, Stadtdirektor Frank Knödler. Man habe mit den 95 Minuten geplant, und somit auf der Grundlage des schlechtesten Standards. Knödler plädierte dafür, neben der Hilfsfrist noch weitere Standards für die Sicherung der Qualität einzuführen. Eine Verbesserung – und die sieht Knödler eindeutig in einer strengeren Auslegung der Vorgabe, also eine Orientierung am Wert zehn Minuten – sei immer auch mit höheren Kosten verbunden. „Zehn statt 15 Minuten bedeutet mehr Kosten, mehr Personal, mehr Fahrzeuge.“

Kostbare Minuten können verstreichen

Eduard Kehrberger ist es in seinem Berufsleben gewohnt, in Sekundenschnelle Entscheidungen zu treffen. Der Notarzt und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Südwestdeutscher Notärzte ist ebenfalls der Ansicht, dass man bei den Hilfsfristen genauer hinschauen muss. „Die Uhr läuft erst ab dem Zeitpunkt, wenn der Disponent in der Leitstelle am Computer eingibt, dass ein Notfall vorliegt.“ Bis dahin können schon etliche Minuten verstrichen sein, die jedoch unter den Tisch fallen, wenn die Einhaltung der Hilfsfrist erfasst ist.

Die Helfer in der Not sprechen sich in ihren Forderungen gegenüber dem Innenministerium weiterhin für Qualitätsmanagement im Notrufwesen aus. Zudem fordern sie ärztliche Leiter in den Leitstellen. Die Ausarbeitung des neuen Landesrettungsdienstplans nehmen die Interessenvertretungen der Retter auch zum Anlass, zu hinterfragen, ob die Anzahl der Leitstellen in Baden-Württemberg reduziert werden könne. Sie haben Hoffnung, dass sich in diesen und weiteren Bereichen etwas bewegt – wenn auch nur sehr langsam. Eduard Kehrberger, der es als Notarzt gewohnt ist, innerhalb von Sekunden zu entscheiden, beschrieb das so: „Man muss sich daran gewöhnen, dass man manchmal eher in geologischen Zeiträumen denken muss, um eine Verbesserung zu erreichen.“