Immer mehr Menschen wählen die 112 ohne triftigen Grund. Rettungsdienste, die in der aktuellen Krankheitswelle mit Personalengpässen konfrontiert sind, stresst das Anrufaufkommen. Ist die Notfallversorgung sichergestellt?

Zwölf Minuten– so lange soll ein Krankenwagen in Baden-Württemberg brauchen, um am Notfallort einzutreffen. Damit die sogenannte Hilfsfrist eingehalten werden kann, müssen ausreichend Rettungskräfte zur Verfügung stehen, die das Notrufaufkommen abarbeiten können. In Baden-Württemberg zeigt sich jedoch folgende unheilvolle Kombination: Ein erhöhter Krankenstand bei den Rettungskräften – und viele Notrufe.

 

„Wir kämpfen mit der derzeitigen Krankheitswelle“, sagt Marcus Schauer, Teamleiter des Rettungsdienstes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), das rund 80 Prozent der insgesamt rund eine Million in 2021 gefahrenen Einsätze im Land gefahren ist. Rund zehn Prozent der Beschäftigten im Rettungsdienst des DRK seien in der aktuellen Grippe- und Erkältungswelle erkrankt.

Sorge, dass kein Rettungswagen kommt, wenn man ihn rufe, müsse jedoch niemand haben, stellt Schauer klar. Die zentrale Leitstelle, die die Notrufe entgegennimmt und auf die in Baden-Württemberg einsatzbereiten Rettungswagen des DRK, der Johanniter Unfallhilfe, des Malteser Hilfsdienstes und des Arbeiter Samariter Bundes verteilt, priorisiert die Notfälle. Wer einen gebrochenen Arm habe, müsse im Zweifel zwar ein paar Minuten länger warten als ein Patient mit Herzstillstand. „Aber die Notfallversorgung ist gesichert“, sagt Schauer.

Rettungsdienste seien „deutlich überlastet“

Die Diskussionen über einen überlasteten Rettungsdienst sind nicht neu – und sind nicht ausschließlich mit der Krankheitswelle zu begründen. Seit Jahren warnen Rettungsorganisationen sowie der Deutsche Berufsverband Rettungsdienst (DBRD) vor einer „deutlichen Überlastung“. So zumindest beschreibt es Andreas Wolf, Landesvorsteher des DBRD Baden-Württemberg. Ein ausschlaggebender Grund: Nicht jeder der 7,5 Millionen Anrufe, die 2021 bei den Leitstellen im Land eingingen, sei ein echter Notruf. Denn immer mehr Menschen würden bei unkomplizierten Symptomen den Notruf wählen. „Wir werden wegen Rückenschmerzen oder 38 Grad Fieber gerufen“, sagt Wolf. Einfach abweisen kann die Rettungsleitstelle Anrufende nicht. „Auch solchen Notrufen müssen wir nachkommen, wir haben eine Versorgungspflicht– auch wenn sie unser Rettungssystem blockieren.“

Arbeiten im Akkord, das sei mittlerweile Normalität bei Sanitätern. Nach teils zähen Übergaben in den ebenfalls gut gefüllten Ambulanzen würden Rettungswagen direkt von einem Einsatz zum nächsten weggerufen werden, „selbst für kurze Pausen und Essen fehlt oft die Zeit“, sagt Joachim Förster von den Maltesern Stuttgart. Arbeitswochen mit 48 Stunden und mehr seien für Rettungsassistenten und Notfallsanitäter eher die Regel als die Ausnahme. Genauso wie Zusatzschichten, die besonders in der Pandemie gestemmt werden mussten.

Bündnis warnt vor dauerhafter Überlastung

Erst kürzlich warnte das neu gegründete „Bündnis pro Rettungsdienst“, ein Zusammenschluss aus sechs Verbänden und Gewerkschaften, darunter die Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft, die Mitarbeiterseite der Caritas und der DBRD: Bei anhaltender Überlastung des Rettungssystems könnte es bald zur Regel werden, dass Rettungswagen länger zum Notfallort brauchen. Ein tragischer Fall in Berlin am vergangenen Wochenende zeigt den Ernst der Lage: Bei einem Unfall mit einem Linienbus der Berliner Verkehrsbetriebe starb eine 15-Jährige. Die angeforderten Rettungswagen erreichten die Unfallstelle erst nach 20 Minuten - die sogenannte Hilfsfrist in Berlin liegt eigentlich bei zehn Minuten.

Nach Einschätzung von Wolf sind die vermehrten Anrufe nicht nur Folge eines übereifrigen Notrufverhaltens in der Bevölkerung. Auch die überlastete Hotline des kassenärztlichen Notdienstes, der bundesweit unter der 116 117 zu erreichen ist, dränge mehr Leute dazu, die 112 zu wählen: „Wenn die Leitungen des kassenärztlichen Notdienst dicht und die Hausarztpraxen voll sind, werden wir angerufen“, sagt Wolf.

112 nur im tatsächlichen Notfall wählen

Die Kassenärztliche Vereinigung, die den ärztlichen Notdienst in Baden-Württemberg koordiniert, weiß, dass Wartezeiten auf ihrer Hotline deutlich zu lang sind. Doch auch hier hat man mit dem gleichen Problem zu kämpfen: „Das Anrufaufkommen ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. Menschen rufen auch wegen Beschwerden an, die eigentlich bis zu den nächsten Praxisöffnungszeiten warten könnten“, sagt der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Baden-Württemberg, Kai Sonntag.

Laut Schauer vom DRK müsse in der Bevölkerung klar sein, dass die erste Aufgabe eines Rettungswagens der Transport eines Notfalls in ein Krankenhaus sei – und nicht die ambulante Versorgung vor Ort. Wird ein Rettungsdienst angefordert, ohne dass ein Transport in die Klinik notwendig ist, checken Notfallsanitäter den Patienten zwar vor Ort durch. Aber das kostet Zeit – in der Menschen in Lebensgefahr hätten gerettet werden können.