Ohne Spaßfaktor wird in Zukunft bald keiner mehr in der City einkaufen. „Für den stationären Handel stehen erdrutschartige Veränderungen an“, sagt Handelsexperte Marc Schumacher. Ein Showroom in Stuttgart zeigt, wohin die Reise geht.

Stuttgart - Am Stuttgarter Herdweg ist die Zukunft des Einzelhandels bereits Gegenwart. Seit November 2016 befindet sich hier auf 400 Quadratmetern eine Showroomfläche mit radikalen Innovationen. Überspitzt gesagt: Wer in Zukunft nicht auf diese Art den Kunden anspricht, wird den drastischen Wandel im Handel wohl kaum überleben. „Für den stationären Handel stehen erdrutschartige Veränderungen an“, sagt Marc Schumacher. Er ist Geschäftsführer von Liganova, einem Unternehmen für Markenkommunikation, das die Händler nicht zum Opfer der Digitalisierung machen will, sondern zu Gewinnern. Einzelhändler sind deshalb auch die Zielgruppe des Showrooms.

 

„Der Handel bleibt, aber anders. Die Digitalisierung birgt auch Riesenchancen, daher ist Bangemachen der falsche Weg“, ergänzt die Handelsverbands-Geschäftsführerin Sabine Hagmann und trifft damit den Nerv vieler Händler. Nur das Thema Wettbewerbsdruck bewegt den Handel noch stärker. Aber direkt danach sind der Online-Handel, der Attraktivitätsverlust der Innenstädte, die Kaufzurückhaltung und die Belastung des Mittelstandes die Top-Themen. Hagmann: „Der Online-Marktanteil wird bis zum Jahr 2020 auf 20 Prozent des Gesamtumsatzes steigen. Man muss daher die Stadt und den Handel neu denken. Technologie kann das Einkaufserlebnis erweitern.“

In der City werden Läden von der Bildfläche verschwinden

Wohin der Weg schon jetzt geht, zeigt ein Spaziergang durch die City. Viele Ladenflächen stehen leer. An manchen Plätzen, wie zum Beispiel dem Oppenheimer Platz, sind es gleich vier Flächen. „Dieser Trend wird sich fortsetzen. Die Ladenflächen werden kleiner und zudem werden die Mieten weiter sinken“, prophezeit Schumacher, „und das wird alles schneller passieren als viele denken.“ Als mahnendes Exempel nennt er den Zeitpunkt, als der Onlinehändler Amazon begonnen hatte, Mode zu verkaufen. Damals hätten viele abgewunken und gemeint: „So ein komplexes Produkt, bei dem Passform und Haptik gefragt sind, wird sich im Internet nicht verkaufen.“ Pustekuchen. Heute wissen es alle besser.

Einige Anzeichen scheinen ihm Recht zu geben. Die Passantenströme in den Innenstädten sinken und die Einkaufscenter, ganz gleich ob in der Stadt oder der Provinz, sind nicht mehr automatisch gewinnbringend. Insider berichten, dass sogar die traditionell gut laufenden Breuningerländer Rückgänge verzeichnen. Schumacher meint daher: „Wir müssen im Handel viel grundsätzlicher denken. Denn die Motivation, in die Stadt zu kommen, wird sich vollkommen verändern.“ Im Branchensprech klingt das so: „Aus der digitalen Revolution entspringt eine disruptive Energie, die Auswirkungen auf das Konsumverhalten und somit auf alle Branchen, Marken und Produkte mit sich bringen wird. Die Art und Weise wie wir konsumieren und unseren Lifestyle gestalten, verändert sich in einer nie da gewesenen Geschwindigkeit.“

Nur wer mit der Zeit geht, wird überleben

Die Schlagworte zu diesem Thema sind bekannt: Die Bedarfsdeckung wird das Internet samt Lieferdiensten übernehmen, das Einkaufs-Erlebnis die City. Schumacher: „Schon heute leben in den USA von rund 300 Millionen Einwohnern etwa 77 Millionen in einem Einzugsgebiet des Same-Day-Delivery. Und die Lieferungen am Tag der Bestellung werden wohl auch bei uns bald flächendeckend möglich sein.“

Wer also im stationären Handel nicht abgehängt werden will, muss sich sputen. Von der Gestaltung des Schaufensters über die Ladenfläche bis hin zur Umkleidekabine. „Unternehmen sind herausgefordert, ihre Grenzen zwischen off- und online fließend zu gestalten und nahtlose Marken-, Produkt-, und Serviceerlebnisse zu schaffen“, sagt Schumacher. Um solche Einkaufserlebniswelten zu schaffen, arbeiten bei ihm Architekten, Marketingfachleute, Produktdesigner, Eventmanager und Technologie-Nerds Hand in Hand, „um die Läden der Zukunft zu entwerfen“.

Der interaktive Spiegel zeigt die Kleidung in verschiedenen Farben

Was die Entwickler darunter verstehen, zeigt sich bei einem Rundgang durch den Showroom. Sensoren und Kameras am Schaufenster erkennen, ob Mann oder Frau sich die Nase an der Scheibe platt drücken. Mit der Ankunft des Kunden beginnt das Fenster zu leben. Ventilatoren und eine Bildschirmwand inszenieren Regen und Sturm, in denen Gummistiefel und Regenmantel fast wie überlebenswichtige Produkte wirken. Selbst der Duft von Regen verströmt in diesem Augenblick. Virtuelle und fassbare Realität, Technologie und Produkte verschmelzen.

Ähnlich ist das Erlebnis vor dem „Magic Mirror“ – dem interaktiven Spiegel in der Umkleidekabine. Der magische Spiegel ist gleichzeitig Bildschirm und Touchscreen. Natürlich wird das Geschlecht des Kunden und die jeweilige Ware erkannt. Prompt ploppen die Kleider in anderen Farben auf, freilich dürfen auch die Vorschläge für passende Accessoires nicht fehlen. Passt das Stück nicht, kann per Fingerdruck ein neues Teil in die Kabine geordert werden. Nicht zu vergessen, der direkte Draht zum Online-Shop glüht auch hier.

„In Zukunft wird kein Laden mehr ohne diese Entwicklungen auskommen“, sagt Schumacher. Sein Kompagnon und Liganova-Gründer Vincent Bodo Andrin, ergänzt: „ Die einzige Daseinsberechtigung für den Point of Sale ist es, zukünftig zum Point of Experience zu werden. „Mit anderen Worten: Kaufen wird wie spielen. Spielen wie kaufen. Ohne Spaßfaktor wird keiner mehr zum Shoppen in die Stadt kommen.