Rezzo Schlauch, 69, ist ein grünes Urgestein. Die Stuttgarter Verhältnisse kennt er aus eigener Anschauung – immerhin wollte er hier mal Oberbürgermeister werden. Er rät den Grünen dringend zum Regierungseintritt in Berlin.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart -

 
Herr Schlauch, sie sind ein weit gereister Mann. Waren Sie schon mal in Jamaika?
Nee, leider nicht, aber ich denke, das wird jetzt ein sehr wichtiges Reiseziel werden.
Ein Hauch von Jamaika wird künftig wohl in Berlin wehen . . .
Na ja, mir ist das Original immer lieber als die Kopie. Wenn der Lifestyle von Jamaika in Berlin einziehen würde mit ein bisschen Reggae und ein bisschen Gras hätte ich nichts dagegen.
Davon sind wir noch ein Stück entfernt . . .
Ja, ein weiter Weg. Aber jetzt mal im Ernst: Ich denke, heute ist alles erreichbar. Außerdem liegt auf den vier Akteuren – CDU, CSU, Grüne und FDP – ein erheblicher Druck.
Sie haben ein Buch über die baden-württembergischen Grünen geschrieben. Titel: „Keine Angst vor der Macht“. Ist das auch Ihr Ratschlag an die Bundesgrünen?
Mein Ratschlag ist: Hart und gut verhandeln – und eine Koalition auf keinen an den Grünen scheitern lassen.
Das bedeutet auch „Kröten schlucken“, wie Sie in Ihrem Buch geschrieben haben?
Mit Sicherheit ja.
Gibt es etwas, das die Grünen auf keinen Fall aufgeben dürfen?
Ich war noch nie ein Freund von irgendwelchen Knackpunkten – schon gar nicht vor Verhandlungen.
Also keine Hürden aufbauen?
Nee! Das ist nicht professionell. Natürlich müssen grüne Interessen gewahrt sein, aber wir haben ja nun vier Akteure, und was nicht passieren darf ist, dass bei den Verhandlungen jeweils der kleinste gemeinsame Nenner rauskommt. Man kann nicht alles so zusammenschmirgeln, dass jeder sein Häckchen dran setzen kann. Die vier Parteien sollten den Mut haben, jedem genügend Entfaltungsraum für das zu lassen, was ihm besonders wichtig ist.
Überrascht vom guten Abschneiden der Grünen auch in Stuttgart?
Ja. Da liegen die Auguren und auch die versammelte Presse völlig falsch. Das sollte ihnen zu denken geben. Ich hab auch eine Erklärung für den Erfolg?
Welche?
Meine Erklärung ist der fulminante Endspurt, den Cem Özdemir im TV-Wahlkampf hingelegt hat. Der Beleg ist das starke Stuttgarter Ergebnis.
Zum Direktmandat hat’s nicht gereicht, aber Özdemir hat den Abstand zum CDU-Kandidaten Kaufmann stark verkürzt. Stärkt das den Grünen-Bundesvorsitzenden auch innerparteilich?
Mit Sicherheit. Der Erfolg der Grünen auch im Land ist Özdemirs Werk. Deshalb glaube ich, dass er bei den Koalitionsverhandlungen ein dickes Pfund von zu Hause mit einbringt.
Die CDU hat in Stuttgart dramatisch verloren, die SPD ist extrem schwach. Wie kommt das?
Die beiden Stuttgarter CDU-Repräsentanten im Bundestag (Karin Maag, Stefan Kaufmann) sind ja nicht unbedingt aufgefallen. Ich denke da aber auch landesspezifisch. Und da muss man feststellen, dass an den Grünen im Land derzeit kein Weg vorbei führt.
Die AfD hat stark abgeschnitten. In Stuttgart liegt sie allerdings unter ihrem Bundesergebnis. Ihre Erklärung?
Das hat was mit den Grünen zu tun – sie sind der Gegenpol zur AfD. Dieser Partei kann man nicht mit sozialer Gerechtigkeit kommen. Sie zwingt der Gesellschaft insgesamt einen Kulturkampf auf – gegen die liberalen Werte, die die Grünen mit durchgehauen haben. Starke Grüne sind der härteste Schutzwall. Deshalb ist die AfD in Stuttgart verglichen mit dem, was sie sonst auf die Waage gebracht hat, leicht geblieben.
Den Anspruch, Gegengewicht zu sein, erhebt jetzt auch die FDP. Sie hat die SPD in Stuttgart fast eingeholt und kommt den Grünen nahe. Ist Stuttgart auf dem Weg zur liberalen Hochburg?
Wenn die FDP den Begriff der Liberalität ausfüllen würde, dann könnte man sich darüber freuen, das kann man jetzt aber noch nicht sagen. Die Liberalen tun ja gerade so, also ob sie vom Himmel gefallen wären. Mich erinnert das eher an neuen Wein in alten Schläuchen. Ich selbst fühle mich im generellen politischen Sinne als Liberaler, deshalb hätte ich auch nichts dagegen, wenn Stuttgart eine grün-liberale Hochburg wird.