Es ist das erste abendfüllende Stück, das Richard Siegal für sein Ballet of Difference choreografiert hat, und es ist eine Hommage an Merce Cunningham: Am 13. Dezember entfaltet „New Ocean“ im Forum in Ludwigsburg seine hypnotische Energie.

Stuttgart - Mathematik ist nicht gerade die allererste Wissenschaft, die man gedanklich dem Tanz zuordnet. Aber Tatsache ist, dass nicht wenige Choreografen mit digitaler Hilfestellung operieren. Der vor genau zehn Jahren verstorbene Doyen des Postmodern Dance, Merce Cunningham, kam mit PC-generierten Tanzmustern ins Studio. Die Generation der Enkel ist nun bei der algorithmusgesteuerten Ästhetik angelangt: Nachdem der britische Tanzdesigner Wayne McGregor 2018 mit einer „Autobiography“ betitelten Auslegung seines eigenen Genoms beeindruckte, taucht nunmehr Richard Siegals Ballet of Difference in einen „New Ocean“ ab – dirigiert von Datensätzen zur Klimaverschiebung aus den vergangenen 25 Jahren.

 

Tanz in popklassizistischer Manier

Kein willkürlich gewähltes Datum, denn just 1994 brachte Merce Cunningham sein Opus „Ocean“ heraus. Siegal dient es nun als Matrix der eigenen Fantasie, die er mit seiner Kompanie am Kölner Schauspiel ausformuliert hat: ein Probenprozess in residence sozusagen. Schon das schneeweiße Bühnenbild, dessen Wände einen überdimensionalen Bodenreif einfassen, verweist auf die kreisrunde Anordnung, in der Cunningham einst das Spiel mit Körperwellen und -wallungen wagte. Überhaupt lassen sich in „New Ocean“, das an diesem Freitag im Ludwigsburger Forum gastiert, zahlreiche Anspielungen auf das Werk des 2009 verstorbenen Pioniers der Zufallschoreografie ausfindig machen. Niemals und nirgends aber spukt ein lediglich abgekupfertes Zitat herum, das kurzerhand neu instrumentiert wird.

Denn schließlich ist Siegal kein Plagiator, und auch kein postmoderner Spätzünder. Stattdessen hat er mit seinem Ensemble Bewegungsphrasen und -passagen in popklassizistischer Manier entwickelt, deren Abfolge allabendlich per Zufallsgenerator ermittelt wird. Gezeigt wird: eine Choreografie in zwei Teilen, die etwas mählich in Gang kommt, dann aber mit Alva Notos E-Partitur voll auf- und abdreht – bis die Tänzer über ein Wellenmeer wirbeln, das sich als schwarzweiße Projektion unter ihren Füßen ausbreitet: zusehends exzessiv und gefährdet, weil in der Zivilisationsfalle gefangen und von Naturkräften zermalmt.

Bis zum Urknall

Siegals ebenso fein gedrechselte wie schwungvolle Körpermotorik stürzt auch den Betrachter unverwandt in die Fluten des Geschehens. Erst locken minimale Ausschläge, dann spreizen sich maximale Kicks und verwegene Rotationen, die sämtliche Achsen im physischen Binnen- wie im realen Außenraum zum Tanzen bringen. Die rauschhafte Energieverschwendung wirkt nachgerade hypnotisch, schlägt auch den Zuschauer in Bann. Bis schließlich der letzte Tänzer im vernebelten Off verschwindet und ein neuer, ohrenbetäubender Urknall den Kreislauf von Werden und Vergehen schließt.

Das achtköpfige Ballet of Difference verschafft seinem Namen mit diesem Auftritt auf glückhafte Weise Geltung. Und das, obwohl alle mehr oder weniger Unisex aus dem Antwerpener Top-Atelier von Flora Miranda tragen. Doch gerade der Mono-Look sorgt dafür, dass Eigenheiten umso mehr ins Auge fallen. Der langmähnige Long Zou betanzt den Spitzenschuh wie eine russische Primaballerina, Mason Mannings superblondierte Erscheinung zischt so mysteriös dahin wie einst Rutger Hauer in „Blade Runner“. Gustavo Gomes schnürt die Muskelpakete, Margarida de Abreu Neto federt wie die personifizierte Resilienz und Jemima Rose Dean schürzt einen geradezu leonardesken Madonnenmund. Ein großartiges Kollektiv, ein großartiger Abend – 100 Prozent ökologisch, 100 Prozent fair art! Nachschlag erbeten!