Vor 150 Jahren wurde der Komponist Richard Strauss geboren. Er war ein ambivalenter Künstler, der es seinen Biografen nicht leicht macht. Der StZ-Klassikredakteur Götz Thieme wagt eine kritische Bestandsaufnahme.

Stuttgart - Das Musikantiquariat J & J Lubrano auf Long Island bei New York bietet gerade das einzige Manuskript eines kompletten Mozart-Werks im freien Handel an, den Kontretanz KV 535 für 1,5 Millionen US-Dollar. Für ein paar Handvoll Dollar weniger – passend zum Jahrestag – ist eine signierte Fotopostkarte von Richard Straus im Angebot (650 US-Dollar). Ob man sich die auf den Flügel stellen mag, ist eine andere Frage, denn der Komponist, noch keine dreißig Jahre alt, fixiert das Kameraobjektiv kaltäugig, mit einer Blasiertheit, aus der die arrogante Arriviertheit im Gewande der behaglichen Bürgerlichkeit schaut (die blitzenden Manschetten!) – wäre da nicht der auf sensiblere Züge deutende, weich schmollende Mund zwischen schief sitzender schwarzer Fliege und elegant geschwungenem Schnauzbart.

 

Die Pose des Künstleraristokraten hat Richard Zwo, dieser zweite Große des Namens in der Operngeschichte, nie abgelegt, erst in seinen letzten Lebensjahren vor seinem Tod 1949 im Alter von 85 Jahren machen sich resignative Züge bemerkbar, da ist das einst volllockige Haupt kahl und die Miene des Achtzigjährigen gleicht dem Kopf eines Seehunds, naiv und urweltlich. Der psychologische Blick auf diese übermächtige Gestalt der deutschen Musikgeschichte im Übergang von Romantik zur Moderne ist geboten. Strauss’ Undurchdringlichkeit, sein bis auf einen, aber eklatanten Punkt biografisch unaufregendes, unaufgeregtes Leben – keine Weibergeschichten, keine Finanzskandale, keine gesellschaftlichen Unbotmäßigkeiten – wirft die Frage nach dem In-Eins-Fallen von Kunst, Werk und geistiger Verfasstheit, besser: geistiger Haltung auf.

Richard Strauss wurde am 11. Juni 1864 geboren als Sohn eines selbstbewussten Münchner Hornisten, der Richard Wagners Opern ablehnte, indes bei den Uraufführungen von „Tristan“ und „Meistersingern“ himmlisch die Waldhornpartien geblasen haben soll. Den Klang dieses Instruments im Ohr, hat der Sohn später für das Horn einige der schönsten Stellen der Orchester- und Sololiteratur geschrieben. Mit viereinhalb bekam der Knabe Klavierunterricht und schrieb als Siebenjähriger seine erste Komposition, eine „Schneiderpolka“. Die Schule flutschte glatt, mit zwanzig debütierte der hochaufgeschossene Schlacks, der Hugo von Hofmannsthal und Gustav Mahler weit überragte, als Dirigent. Strauss war in Musik und Literatur äußerst belesen, in Geschichte und Kunstgeschichte kannte er sich bestens aus.

Stellenweise tannhäusert es hörbar

Zum freundlicheren Zeitgenossen macht ihn das nicht, es verschafft ihm aber einen Horizont. Denn der bald sich einstellende Erfolg will gelenkt, verfestigt werden. Zunächst sind das Orchesterwerke, farbige Programmmusik wie der Sensationserfolg „Don Juan“, den er mit 24 Jahren komponiert, in dem es zwar stellenweise ordentlich tannhäusert, mehr noch aber mit raffinierten Farbmischungen und erotischen Aufgipfelungen idiomatisch straussisch rauscht und jubelt. Es folgen in Abkehr von sinfonischer Mehrsätzigkeit weitere Tondichtungen, Konzertknüller bis heute: „Tod und Verklärung“ (1890), „Till Eulenspiegel“ (1895), „Also sprach Zarathustra“ (1896), „Ein Heldenleben“ (1899) und als Gipfelwerk raffinierter Orchesterkunst „Eine Alpensinfonie“ (1915).

So süffig das immer daherkommt: Strauss’ Handwerkskunst, seine souveräne Behandlung des Orchesters, das Erdenken und Formen von plastischen Klängen stand nie in Zweifel – selbst anscheinend ästhetisch fern Stehende haben solch unangefochtener Metierbeherrschung ihre Anerkennung nicht versagt. Als Helmut Lachenmann 2005 zum Siebzigsten vom Luzern Festival eine Werkschau gewidmet wurde, wünschte sich der Stuttgarter für ein Konzert neben seinem Werk „Ausklang“ die „Alpensinfonie“. Eine Musik mit einer Struktur, „vor deren Reichtum unsere zeitgenössischen Klangfarbeningenieure alt aussehen“, wie Lachenmann sagte.

Und eine Musik, die den Zeitgeist des jungen 20. Jahrhunderts atmet. Mit einem schönen Satz, der Musil paraphrasiert, stellt Lachenmann den Kollegen an seinen Platz: „Die einen haben neue Luft gewittert, und andere haben im Wissen, dass sie ausziehen müssen, noch einmal im alten Gebäude so richtig gehaust.“ Tatsächlich habe hier jemand noch einmal den „verfügbaren ästhetischen Apparat“ in Gang gesetzt. Möglicherweise hat diese Widerstandslosigkeit und Leichtigkeit, mit der hier einer operierte, irritiert.

Eminenter Theaterpraktiker

Von seinem dreißigsten Lebensjahr an eroberte sich Strauss die Opernbühne, 1894 hatte sein Erstling „Guntram“ Premiere, im gleichen Jahr heiratete er die Sängerin Pauline de Ahna, die sich bei vielen unbeliebt gemacht hat. Zu Alma Mahler soll der Ehemann gesagt haben: „Mei Frau ist oft arg ruppig, aber wissen S’, i brauch des!“ Es folgten in den kommenden fünfzig Jahren noch 14 Opern. Ins ständige Repertoire haben es fünf gebracht: „Salome“, „Elektra“, „Der Rosenkavalier“, „Ariadne auf Naxos“ und „Die Frau ohne Schatten“. In ihnen ist Strauss ein eminenter Theaterpraktiker, ein Meister finaler Wirkungen und der Anagnorisis, dem Augenblick plötzlicher Erkenntnis. Elektras Aufschrei, wenn sie den Bruder Orest erkennt – unerhört, wie der Moment, wenn die Färberin ihren Schatten verliert und die Elemente die Erde erbeben lassen. Alles was folgte, hatte im Ganzen kaum mehr die Höhe dieser zwischen 1905 und 1919 uraufgeführten Werke.

In den zwanziger Jahren bog bei Strauss nun öfter der Edelkitsch in Wort und Ton um die Ecke – trotz des Librettisten Hugo von Hofmannsthal zum Beispiel in der „Arabella“ (1933). Wenn die Titelheldin im Finale raunend anhebt „Du sollst mein Gebieter“ sein, dann schleicht sich der falsche Ton ein, mit dem sich keine richtige Oper komponieren lässt. Längst gab es ja Janáceks „Katja Kabanowa“, Bergs „Wozzeck“ und Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Thomas Mann hat Strauss’ Abkoppelung von den eigenen Ansprüchen auf den Punkt gebracht und nebenbei eine blendende Charaktervignette geliefert: „Was für ein begabter Kegelbruder! Der Revolutionär als Sonntagskind, keck und konziliant. Nie waren Avantgardismus und Erfolgssicherheit vertrauter beisammen. Affronts und Dissonanzen genug, – und dann das gutmütige Einlenken, den Spießer versöhnend und ihm bedeutend, dass es so schlimm nicht gemeint war . . .“ Mann lässt so Adrian Leverkühn über Strauss sprechen, die Komponistenfigur in seinem Roman „Doktor Faustus“. Es ist damit der Preis benannt, den Strauss mit der Wende in seinem Opernschaffen, dem „Rosenkavalier“, entrichtet hatte.

Er musste in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hinnehmen, dass die Musik in der Öffentlichkeit oft woanders spielte. Nicht nur deswegen hatte er für seine komponierenden Zeitgenossen (eine Ausnahme war der 1911 gestorbene Gustav Mahler), insbesondere die Zwölftöner, meist gelinde Verachtung übrig: Arnold Schönberg, der manch Freundliches über seine Musik gesagt hatte, riet Strauss, er solle lieber Schnee schaufeln als Notenpapier bekritzeln; ein anderes Mal fiel der Satz: „Dem armen Schönberg kann heute nur der Irrenarzt helfen.“ Im Falle von Franz Lehár und Giacomo Puccini war die Motivation eindeutig: Deren materielle Erfolge waren ein Stachel. Wenn Strauss gerühmt wird für sein historisches Engagement beim Urheberschutz, der Verlängerung von Schutzfristen und der Verbesserung der Einnahmesituation der Komponisten, dann wird in den Darstellungen meist der eigentliche Grund unterschlagen: Strauss’ Geldgier. Er war sich nicht zu schade, seine Position als Präsident der Reichsmusikkammer von 1933 bis 1935 auszunutzen, um in dieser Hinsicht das Gespräch (und die Einflussnahme) bei Joseph Goebbels zu suchen.

Ein Opportunist und Anpassungsartist

Dieses Amt, das Strauss gerne angenommen hat, ist mehr als ein biografischer Makel. Der Vorgang – sein Verhalten während der Nazizeit – erklärt sich aus seinem Wesen. Von Beginn seiner Karriere an war Strauss ein Opportunist, anschmiegsam an die Zeiten. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs rief er aus: „Es ist eine große herrliche Zeit.“ Anpassungsartist blieb er bis zum Schluss. Selbst nach der deutschen Katastrophe, nach 1945 hatte er nichts begriffen.

Ein zwingendes Porträt von Strauss’ Persönlichkeitsstruktur hat der (jüdische) Dirigent Otto Klemperer überliefert, das umso genauer scheint, als es frei ist von Ressentiment. Klemperer nannte Strauss einen netten Mann, „höflich und konventionell und sogar witzig“. Dennoch hatte Klemperer in seiner unnachahmlichen Art Zweifel: „Sehen Sie, er war ein großer Mann, das weiß ich. Aber Gott, wie soll ich das bloß erklären? In ,Mahagonny‘ sagt mal einer: ,Aber etwas fehlt.‘ Und im Charakter von Strauss fehlte auch etwas.“ Ein halbes Jahr bevor Hitler Reichkanzler wurde, besuchte Klemperer den Komponisten in seiner Villa in Garmisch, befragte ihn zu einigen Stellen in den Werken und kam dann auf die Nazis zu sprechen. Ein naheliegendes Thema, Strauss’ jüdische Schwiegertochter saß mit am Teetisch. Da wandte sich Strauss’ Frau Pauline in ihrer direkten Art an Klemperer und sagte: „Ach wissen S’, Herr Doktor, wenn Ihnen die Nazis an’n Kragen wollen, kommen Sie nur zu mir. Dann wer ich’s den Herren schon geben.“ Richard Strauss erwiderte: „Dös wär grad der rechte Moment, sich für an Juden einzusetzen.“ Klemperer selbst kommentierte das nüchtern: „Die Schamlosigkeit war so nackt, man konnte gar nicht böse sein.“

Dieser Zug trübt entscheidend das Bild des großen Komponisten. Strauss-Bewunderer gingen darüber immer sehr generös hinweg. Selbst der, weil Jude, ins Exil getriebene Hans Mayer verwies exkulpierend etwa auf Claude Debussys „französisch-nationalistische Bekundungen“ im Ersten Weltkrieg und schloss den Fall Strauss in dieser Hinsicht mit dem kapitalen Unsinnssatz: „Die Gesamtheit von Richard Strauss ist historisch geworden und geblieben. Das ist nach wie vor singulär.“

Moralisches Versagen

Der Musikwissenschaftler Michael Walter, der vor 14 Jahren eine bis heute maßgebliche, da kritische Biografie veröffentlicht hat, machte Strauss’ „intellektuelle Inflexibilität“ für sein moralisches Versagen im Dritten Reich verantwortlich – Strauss agierte nur, wenn er persönlich involviert war. Er sah vor allem eigene Vorteile, als er 1933 kurzfristig für den von den Nazis geschassten Bruno Walter ein Konzert bei den Berliner Philharmonikern übernahm (Fühlung zu den Institutionen halten!) und im Sommer des gleichen Jahres bei den Bayreuther Festspielen „Parsifal“-Vorstellungen, die Toscanini hätte dirigieren sollen. Aus Protest gegen die deutsche Politik hatte der Italiener abgesagt. Und was hat Strauss bewogen, den infamen „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“ zu unterschreiben, der auf üble Weise gegen Thomas Mann und seinen Wagner-Vortrag gerichtet war?

Strauss’ Verhalten ging über Kompromisse hinaus. Sein Egoismus wurde Goebbels und Hitler zwar bald zuviel, so dass sie ihn kurz hielten. In ernste Gefahr geriet er nie, auch wenn die Lage der Familie durch die jüdische Schwiegertochter und die beiden „versippten“ Enkel gegen Ende des Kriegs gelegentlich prekär wurde und ihnen Repressalien angedroht wurden.

Strauss selbst rechnete sich nach dem Krieg zu den anständigen Deutschen – eine Sicht, die seine Apologeten gern übernahmen. Ebenso wie die Einschätzung, er sei der letzte der großen Komponisten der deutschen Musikgeschichte: Mozart, Beethoven und Schubert. Wie Strauss in einer Skizze für seinen Biografen Willi Schuh schrieb, sei „die Vollendung der Sprache des Wagner’schen und Strauss’schen Orchesters der Abschluss und Gipfel der bisherigen Culturentwicklung der Menschheit“. Das bleibt eine offene Frage – wie vieles im Fall Strauss ungewiss bleibt.