Fast ohne Requisiten und im meist dunklen Raum verweigert der Regisseur Arpad Schilling Richard Wagners „Lohengrin“ an der Staatsoper in Stuttgart eine scheinromantische Verzweigung. Schilling fragt vielmehr: Was taugt ein neuer Anführer in der Gesellschaft?

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Wer ist Gottfried? Richard Wagners Libretto der romantischen Oper „Lohengrin“ von 1848 sieht „einen schönen Knaben in glänzendem Silbergewande“ vor. Lohengrin hebt ihn aus dem Fluss ans Ufer: „Seht da, den Herzog von Brabant, zum Führer sei er euch ernannt.“ Gottfried, von der heidnischen Hexe Ortrud vormals in einen Schwan verwandelt, figuriert am Ende des Stücks als neuer Retter der Gemeinschaft. Was wird er tun? Weiterhin Kriege führen an der Seite von König Heinrich gegen den Ansturm aus dem Osten, „des Reiches Ehr zu wahren?“ Oder erneut „Frieden auf neun Jahr“ aushandeln?

 

Keiner weiß es. Nur dass Gottfried, wenig hoffnungsvoll, einfach irgendein Hanswutwurst sein kann aus der Menge, das sieht man deutlich in Arpad Schillings Inszenierung an der Stuttgarter Staatsoper, mit der die Intendanz von Viktor Schoner beginnt. Während nämlich der schon nicht mehr zu sehende Lohengrin seinen letzten Satz singt, greift sich die Systemwahrerin Ortrud wahllos einen Mann, der gerade neben ihr steht: Er hat keine Haare mehr und trägt ein grün-graues Ringelshirt, von Silber keine Spur. Ein Niemand, der im Weiteren instrumentiert werden kann. Massiv und bedrohlich nähert sich das Volk nun der ohnmächtigen Elsa, Gottfrieds Schwester. Sie steht mit dem Rücken zur Wand und hält zur Abwehr ein Messer in der Hand. Dann wird es dunkel auf der Bühne.

Die Dunkelheit als prägendes Mittel der Regie setzt Arpad Schilling von Anfang an konsequent ein. Über dem leeren, schwarzen Bühnenraum (Raimund Orfeo Voigt), der in einen tunneligen Abgrund führt, macht sich lediglich auf dem Weg zur Hochzeit von Elsa und Lohengrin und im Brautgemach mehr Helligkeit breit. Dem romantischen wie dem Künstleraspekt und dem Märchencharakter der Oper steht Schilling fern. Stattdessen stellt er sich der schwierigen Aufgabe, eine politische Parabel zu erzählen, ohne vordergründig zu werden: Die „Lohengrin“-Premiere findet statt an einem Tag, an dem Recep Tayyip Erdogan, der türkische Präsident, in Köln von Anhängern messianisch gefeiert wird, und wer hätte nicht einen Satz Adolf Hitlers im Ohr, der sich ja als Wiedergänger Lohengrins betrachtete. Wann immer Hitler konnte, huldigte er dessen Projektion im Theater: „Damals begann es“, raunte er einmal bei einem Spaziergang seinem Architekten und Rüstungsminister Albert Speer zu. Wann, wie und warum also beginnt etwas wie Führerkult?

Erfahrungen aus der ungarischen Vergangenheit

Arpad Schilling hat seine speziellen biografischen Erfahrungen aus der ungarischen Vergangenheit, wendet diese jedoch ins Allgemeine. Wenn die Handlung einsetzt, tragen die Menschen Mausgrau, die Endzeitfarbe des Sozialismus im Ostblock. Der Ort ist irgendwo dort, die Zeit ungefähr vor dreißig Jahren. Nur König Heinrich (Goran Juric) steckt in einem blauen Anzug. Es ist, kein Zweifel, eine Männergesellschaft, in der sich die Frauen im Gefolge von Elsa (Simone Schneider) nur allmählich ihr Partizipationsrecht auf der Bühne erkämpfen. Schilling erzählt das gesellschaftliche Miss- und Unterdrückungsverhältnis zunächst ohne jedes Requisit. Er verschiebt vielmehr Masse, und diese Masse bringt, buchstäblich, Lohengrin hervor.

Aus der Anonymität wird ein Einzelner herausgeschubst, der am liebsten sofort wieder untertauchte. Groß, graue Jacke, flackernder Blick (Michael König). Lohengrin könnte eine Persönlichkeit sein, die hier fehlt: ein Mann mit Herz, der einer Frau in schwerster Bedrängnis helfen will. Ob er ein Gralsritter ist, wie König am Ende singt (dann mit schönstem Anfangspianissimo) bleibt dahingestellt. Dem Wundersamen, Richard Wagners Kerngedanken, misstraut Schilling. Auf jeden Fall aber ist Lohengrin eine Art Katalysator. Er ändert den gesellschaftlichen Aggregatzustand. Und er ist im Besitz eines Zeichens. Einen winzigen Schwan nur, aber doch: einen Schwan hält er im Arm – und gibt ihn Elsa.

Vieles vom Folgenden verortet Schilling, Begründer des Ensembles Kretakör (Kreidekreis), in einem solchen: Der Kampf zwischen Telramund und Lohengrin und fast der gesamte zweite Aufzug spielen in den engen Grenzen, die dieser auf den Bühnenboden gezeichnete Kreis absteckt. Auf der musikalischen Seite – und nach einem eher rhythmisch zupackenden als irisierenden Vorspiel – entspricht dieser Konzentration des Geschehens der neue Generalmusikdirektor Cornelius Meister mit teils frappierender Detailarbeit. Die Dialoge zwischen Ortrud (Okka von der Damerau) und Martin Gantner als Telramund, beide sehr präsent und aufeinander hörend, werden von der Depression zur Dämonie hin entwickelt – mit jähen Aufschwüngen und auf der Grundlage eines stets transparenten Gesamtklangs. Meister ist kein Zauderer – und nur Zauberer will er nicht sein. Magie, sprich: surrealer Ton, ist weitgehend gestrichen. Das hat seine eigene Logik, Phrasierung und vor allem ausgefeilte Dynamik.

Lohengrin ist vielleicht nur eine Projektion

Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung bleibt der von Manuel Pujol mustergültig einstudierte Staatsopernchor. Schilling sieht ihn als Kollektiv von Abhängigen. Vereinzelte Individualitätsausbrüche erschöpfen sich rasch im Aktionismus. Auf Betreiben der Frauen tragen zwar schnell alle Freizeitbunt osteuropäischer Prägung, irgendwie jedoch haftet dem Ganzen etwas Vergebliches, Anpasserisches an: Der Impuls zur Veränderung kommt in dieser Gesellschaft immer nur von oben, nie von innen, und so ist das Prinzip Lohengrin tatsächlich vielleicht nicht mehr als eine Projektion, selbst für die Protagonisten.

Was Elsa betrifft (Simone Schneider zuerst mit minimalen Unsicherheiten, dann strömend, beherzt, mit Glockensopranton), hat man den Eindruck, dass sie das Frageverbot, mithin Männerregeln, schon von gestern findet, als sie diese verbal noch gar nicht in Zweifel zieht. Was Lohengrin angeht, scheint er sich nie sicher zu sein, ob er überhaupt jemals jener Mann ist, der er vom Schluss her gesehen sein muss: ein Außerirdischer und Abgesandter der Gralsgemeinschaft.

Anders gesagt, Arpad Schilling hat an das Stück viele Fragen, die er im Stück nicht beantwortet findet. Was wiederum daran liegt, dass es sich um eine romantische Oper handelt. Der Komponist bewegte sich im Irrealis. Als Richard Wagner die Konzeption in Marienbad fertiggestellt hatte, war ihm, als ob er „Flügel hätte“. Schilling weiß, wohin diese Flügel, realistisch gesehen, immer wieder getragen haben und tragen. Seine ernste, karge Inszenierung, am Ende auch mit Buhs beantwortet, will sich und uns nichts vormachen, also nicht ergreifen. Deswegen ist sie – in allem Dunkel – erhellend.