Der Linkenchef Bernd Riexinger hat 1974 im konservativen Weil der Stadt ein revolutionäres Jugendhaus und dann die Kommune Besengasse 1 gegründet. Diese Erfahrung half ihm später bei seiner politischen Karriere.

Weil der Stadt - Wir schreiben das Jahr 1974. Helmut Schmidt ist gerade Bundeskanzler geworden, die Euphorie der Ära Brandt schon wieder abgeklungen, die revolutionären Proteste von 1968 gehen bald in den Deutschen Herbst mit dem RAF-Terror über. Diese gesellschaftlichen Wellenschläge kommen in der kleinen Landstadt Weil der Stadt mit seinen 18 000 Einwohnern nur selten an. Die katholische, einstmals Freie Reichsstadt ist damals so schwarz, dass man seinen Schatten auch tagsüber kaum sehen konnte, so ein Bonmot aus dieser Zeit.

 

Selbst bei der legendären Willy-Brandt-Wahl 1972 mit dem SPD-Rekordergebnis hielt die CDU mit fast 52 Prozent die absolute Mehrheit in der Stadt. Hier wurde gewählt, was der Pfarrer sonntags von der Kanzel der Stadtkirche predigte. Kaum vorstellbar, dass eine linke Keimzelle entstehen würde, die auch 40 Jahre später noch als selbstverwaltetes Jugendhaus in einem alten Augustinerkloster mitten in der Altstadt steht. Wie ein Leuchtturm des Widerstandsgeistes. Und mittendrin der junge Bernd Riexinger – der damals diese Keimzelle gemeinsam mit 40 Altersgenossen gründet. Als am Jahreswechsel 1974 auf 1975 im historischen Hausensemble das linke Kampflied „Die Internationale“ in einer ohrenbetäubenden Lautstärke intoniert wurde, erschütterte das die Stadt. „Das hat einen Riesenärger gegeben, nicht nur wegen des Lärms“, schmunzelt der Spitzenpolitiker Bernd Riexinger heute.

So begann schon ganz früh im Kleinen, was den Parteichef der Linken nun im Großen ausmacht. Er steht 40 Jahre später im katholischen Gemeindehaus bei einer Veranstaltung der Linken. Die alten Mitstreiter, in Ehren ergraut, haben sich wieder getroffen. „Eigentlich haben wir uns kaum verändert“, meint Ewald Bartl, einer der führenden Köpfe damals, heute Anwalt für Arbeitsrecht. „Selbst die Themen sind die gleichen geblieben.“ Man erkennt sich, umarmt sich, lacht miteinander – nur die Haare sind meist nicht mehr so lang, und die Hemden nicht mehr so schrill bunt.

Wie kam es zu dieser kleinen Kulturrevolution? Bernd Riexinger ist im winzigen Teilort Münklingen aufgewachsen. „Ich habe damals eine Kindergruppe der evangelischen Kirche geleitet“, sagt der 59-Jährige. Ein erster Akt der Rebellion war, dass in der Kindergruppe der evangelischen Kirche Jungs und Mädels zusammen ihre Freizeit verbracht haben. Dem Pfarrer, der sich der konservativen Liebenzeller Mission zugehörig fühlte, hat das die Zornesadern auf die Stirn getrieben. Er hat das aus seiner Sicht unheilige Treiben in den Kirchenräumen verboten.

Der erste politische Sieg

Doch Riexinger wollte nicht aufgeben, entwickelte politisches Engagement und gewann zum ersten Mal bei einem Konflikt, indem er sich einen Verbündeten suchte – den Bürgermeister. Der war zwar kaum weniger konservativ, lag aber mit dem Pfarrer im Clinch. „Er hat uns die Kleinturnhalle für die Gruppe zur Verfügung gestellt“, erzählt Riexinger. Erster Sieg – und gleich etwas gelernt.

Der 16-Jährige aber wollte mehr, las die Schriften der Studentenbewegung, engagierte sich in der linken Pfadfinderbewegung, wurde deren Landesvorsitzender, organisierte Vorträge darüber, wie sich die Menschheit von der Jagd zum Kapitalismus verändert hat – oder eben auch nicht.

Aber was tat man sonst im verschlafenen Münklingen als Teenager? „Wir haben vor dem Rathaus rumgelungert, das war es“, sagt Alfred Kappler, ein Weggefährte und heute Fraktionschef der Grünen im Gemeinderat. Ein Treff musste her. So entstand ein „Aktionskomitee Jugend und Freizeit“, ein SPD-naher Lehrer leistete Schützenhilfe. Bernd Riexinger war inzwischen Azubi bei der Leonberger Bausparkasse und kämpfte in der „Lehrlingsbewegung“ für seine Rechte.

In dem Aktionskomitee, das schnell die größte politische Gruppierung in der Kleinstadt wurde, traf sich seine Lehrlingsbewegung mit der klassischen Studentenbewegung, stritten Realschüler mit Abiturienten. Ewald Bartl war der Brückenkopf der Akademiker, intellektuell sozusagen ein Gegenpart zu Riexinger. „In Weil der Stadt sind beide Bewegungen fusioniert, was damals sehr ungewöhnlich war“, erinnert sich Ewald Bartl. Man wollte die Welt verändern – oder zumindest Partys feiern und über Sozialismus diskutieren. Und dazu einen Raum mit der nötigen Infrastruktur.

Dies stieß nun beim Establishment der Stadt auf völliges Unverständnis. „Was brauchen die jungen Leute Strom und Wasser für das Jugendhaus? Die sollen in die Vereine gehen!“, soll der Stadtrat Kling gesagt haben – der Vater des heutigen FWV-Fraktionschefs Markus Kling. Diesmal war auch der Rathauschef Friedrich Knobloch skeptisch, aber erneut erwies sich die Gruppe als politisch ausgebufft. Ausgerecht die Freien Wähler halfen den Teenagern, sie wollten dem Schultes eines auswischen. Und so bekam das Aktionskomitee einen Raum und 5000 Mark.

Theater gegen das Establishment

„Der erste Discoabend war der Wahnsinn“, erzählt Bernd Riexinger, während er sich das Jackett auszieht. Die Augen leuchten, der alte Kampfgeist flammt wieder auf. Monatelang hatten die jungen Leute die Wände gestrichen, den Boden restauriert und geschliffen, eine Theke geschreinert. „Der Raum war brechend voll“, sagt Riexinger. Eine Explosion der Lebensfreude, 150 Leute drängten sich im ersten Stock des Gebäudes. Alles ging gut – aber der Boden sah nachher schlimmer aus als vor dem Umbau – daran erinnern sich alle.

Aber es wurde nicht nur gefeiert. Ganz im Gegenteil, politische Bildungsarbeit war angesagt. Eine Theater-AG wurde gegründet, die in einem Stück die Stadträte durch den Kakao gezogen hat. Zeltlager wurden organisiert, eine Werkstatt gegründet, über das Wettrüsten im Kalten Krieg diskutiert, gegen die den aus ihrer Sicht allgegenwärtigen „Faschismus“ und die Apartheid in Südafrika demonstriert. „Wir haben die großen Theorien erörtert, wir wollten uns ein anderes, besseres Weltbild erarbeiten“, sagt Bernd Riexinger. Das sollte ganz konkret gelebt werden: Das Jugendhaus war – und ist bis heute – selbstverwaltet.

Alles wurde in Vollversammlungen basisdemokratisch entschieden. Als Anfang der 80er gegen die Pershing-Raketen demonstriert wurde, fand in Weil der Stadt sogar eine Großdemonstration statt. „Wohl zum ersten Mal in der Stadtgeschichte“, sagt Bernd Riexinger und lacht. In dieser Zeit hat er das Organisieren gelernt. Er war der führende Kopf. „Seine Stärke lag darin, andere zu begeistern und darauf zu achten, sich nicht selbst in den Vordergrund zu stellen“, sagt eine ehemalige Mitstreiterin. Das richtige Rüstzeug also, um später als Verdi-Landesvorsitzender die Arbeitnehmer zu mobilisieren. Oder vor zwei Jahren die völlig in Ost und West zerstrittene Partei Die Linke zu übernehmen.

„Die Debattenkultur ist auch nicht so viel anders als damals in Weil der Stadt“, sagt er heute dazu. Damals ging es um das nächste Zeltlager in Jugoslawien, heute um die Haltung der Partei zur Ukrainekrise. Die Themen mögen größer sein, komplexer, die Akteure professioneller, vielleicht auch intriganter – aber die Mechanismen der Organisation sind die gleichen. Das gilt noch mehr dafür, was nach dem Jugendhaus kam. Als die linke Jugend erwachsen wurde, wollte man das in den Aufbaujahren entstandene Weltbild in die Realität umsetzen. Nicht irgendwo, sondern in Weil der Stadt. „Wir wollten eine selbstverwaltete Wohngemeinschaft gründen“, sagt Bernd Riexinger. Aber niemand wollte damals an langhaarige junge Revoluzzer vermieten, die – so die Befürchtung – womöglich freizügige Exzesse nach dem Vorbild der Kommune 1 in Berlin veranstalten würden.

Die Kommune Besengasse 1

Nichts lag den linken, aber dennoch bodenständigen Revolutionären ferner. Schließlich kaufen sie selbst das alte Haus Besengasse 1. Eine siebenköpfige WG mit Gemeinschaftsraum und kollektiver Küche entstand – neben dem Jugendhaus „Kloster“ plötzlich ein zweiter Leuchtturm mitten zwischen den Fachwerkhäusern.

Die linke Wohngemeinschaft Besengasse 1 wurde ein Dreh- und Angelpunkt. „Es gingen ständig Leute ein und aus.“ Riexinger erinnert sich an wilde Feste. Es sei aber alles gesittet verlaufen, betont er. Keine Ausschweifungen, die Miete sei pünktlich gezahlt worden, vielleicht sogar die Kehrwoche erledigt. Die jungen Leute sorgten für Aufsehen, erarbeiteten sich aber den Respekt der Nachbarn, weil sie die Fachwerkfassade in mühevoller Arbeit freilegten. „Die sind irgendwie links, aber schaffen können sie“, hieß es. Ein größeres Lob kann einem in Schwaben nicht widerfahren.

Auch das Haus Besengasse 1 existiert heute noch. Die Mieter und Eigentümer wechselten, es ist immer noch Symbol alternativer Wohnformen. Bernd Riexinger selbst hat vor einigen Jahren seine Anteile verkauft, bleibt aber dem Gebäude ebenso verbunden wie dem Jugendhaus und der kleinen linken Szene der Stadt.

Die Erfahrungen dort waren für den linken Schwaben ein wichtiges Rüstzeug für spätere Auseinandersetzungen – und deren Schlichtung. Das begann schon bei der Leonberger Bausparkasse, bei der Riexinger als bekannter Agitator nach der Lehre nicht übernommen wurde – er klagte sich bei vollem Risiko ein, wurde schließlich zehn Jahre freigestellter Betriebsrat. Und das ging weiter in etlichen Tarifkonflikten bei Verdi.

So setzt sich dieses Schema fort durch sein ganzes Leben. Geschenkt wurde Bernd Riexinger selten etwas, immer wieder stellte er sich gegen den Mainstream, gegen etablierte Strukturen. Er blieb sich treu, auch als er gegen die Agenda 2010 von Gerhard Schröder kämpfte mit linksgesinnten SPD-Genossen, die WASG mitbegründete und sie später mit der PDS zusammen führte.

„Ich musste immer kämpfen, dabei aber auch das entdecken und stärken, was verbindet“, sagt Riexinger. Beides war schon 1974 angelegt. „Davon werde ich mein ganzes Leben profitieren.“ Und vielleicht vernimmt man manchmal über den ehrwürdigen Mauern von Weil der Stadt, wenn man genau hinhört, einen leisen Nachklang der Internationalen aus der Silvesternacht 1974.