Andrea Breth blickt am Stuttgarter Staatstheater mit ihrer grandiosen Inszenierung von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ in die Abgründe des Menschseins.

Stuttgart - Stuttgart - Grau, kalt, starr schließt sich der Raum ab gegen das Leben. Wasser rinnt über den Boden, schwer wuchtet schwarzes Gestein, hüfthoch, schulterhoch. Ein umgestoßener Tisch, ebenso ein Stuhl. Eng und weit ist es zugleich, umschlossen ist das Geviert von Spiegeln, darüber eine Art schmale Galerie, Türausschnitte.

 

Aber einer denkt und fühlt darin, er zagt und bebt, sucht, findet nicht, stößt zuletzt auf sich selbst – und verzweifelt daran. Beinahe nackt kriecht er über den Felsen. Krümmt sich, winkelt die Glieder ab, stumm aufgerissen ist der Mund, der Körper ein Schrei: Jakob Lenz. Der Poet, die Novellenfigur, die Opernrolle.

Andrea Breth hat Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ an der Staatsoper Stuttgart inszeniert. Leicht trägt die Kammeroper an ihren 35 Jahren, eine Musik, die zeitlos dicht, nah und präsent ist. 1979 wurde sie in Hamburg uraufgeführt, ein Signetstück der Nachkriegsmoderne, wie 1997 das ebendort herausgekommene „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann. Es leben nicht nur Kontoristen und Containerverlader dort oben im Norden. . .

Auf dem Sprung, treibend, mit körniger Schwärze

Die Mitglieder des Staatsorchesters Stuttgart unter der Leitung von Franck Ollu realisieren Rihms Werk wie auf dem Sprung, treibend, mit körniger Schwärze, trocken ballt sich der Klang; herausgehoben seien die exzellenten Cellisten Francis Gouton, Jan Pas und Campbell White. Nicht elf, sondern doppelt so viele Spieler meint man zu hören, was für die eminente Qualität (und Ökonomie) der Rihm’schen Partitur spricht.

Ja, Rihms „Lenz“ ist das Geniewerk eines 25-Jährigen, der seiner Zeit einen Weg des Komponierens für das Musiktheater öffnete, das den damaligen Dogmatikern das Wasser in die Augen schießen ließ. Wie richtig dieser Aufbruch gewesen ist, zeigt die Stuttgarter Aufführung, auch indem sie das „Operchen“, das Rihm – obwohl für die Studiobühne geschrieben – ja gerade nicht im Sinn hatte, für den großen Raum entdeckt. Der anwesende, herzlich gefeierte Komponist war am Schluss zu Tränen betroffen von dem, was er erlebt hatte in achtzig Minuten. „Musik als Wechselbeziehung von stummer Struktur und Klang ist primär Emotionsträger und -erreger. Ihre Qualitäten liegen im Äußernkönnen des Affekts, im unmittelbar nervlich Aufnehmbaren“. Das war das Kredo des jungen Wolfgang Rihm. Und es ist Jahrzehnte und beinahe unfassbare vierhundert Werke später gültig. Mit dem Zitat ist viel gesagt über Breths Inszenierung, die durch genaue Arbeit am Detail wie dem Schlagen eines zwingenden Bogens, diesem Affekt den strengen Rahmen gibt, der ihn erst zur Wirkung bringt. Ein Abend, der dem Zuschauer einen Punch versetzt, den er Stunden, Tage spüren wird.

Eine Episode aus dem Leben von Jakob Michael Reinhold Lenz, unglücklicher Zeitgenosse Mozarts, Autor des „Hofmeisters“ und der „Soldaten“, der elendig auf einer Moskauer Straße starb, inspirierte den 21-jährigen Georg Büchner zu seiner Novelle „Lenz“. Psychisch angeschlagen, schizoide Schübe erleidend, sucht Lenz Zuflucht bei dem Pfarrer und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin und seiner Familie in den Vogesen. Wahnvorstellungen treiben ihn zu Selbstmordversuchen, religiösem Delirieren. Wolfgang Rihm löst diese Tage der Verzweiflung in 13 Szenen auf. Schlaglichter auf einen Verfall, der nicht aufzuhalten ist.

Ein Meisterstück der Technik

Breths Inszenierung trennt diese ins Chiaroscuro eines Gemäldes getauchten Szenen durch filmische Schwarzblenden, in denen oft binnen nur einiger Sekunden der Grundraum schlagend verändert wird (Bühne: Martin Zehetgruber, Licht Alexander Koppelmann). Ein Meisterstück der Technik, die das Szenenbild zum zweiten Protagonisten macht, wenn etwa Lenz zu einem toten Mädchen in der Nachbarschaft eilt, um es zum Leben zu erwecken.

Dort sitzen dann auf übergroßen Stühlen sechs Kinder, bleich, lesend, während er sich über den puppenartigen Leib beugt. Oder nach der ersten Verwandlung: Lenz liegt halb nackt eingesargt in einem der Fächer eines ansonsten leeren Regals, in dem einzig eine Büste des Großdichters Goethe steht, die später zerschlagen auf dem Boden liegt.

Georg Nigl ist dieser Lenz mit heller Haut und wilden Haaren, ein Gekreuzigter, ein Nietzsche aus dem Schattenreich, er ist das Körperzeichen seiner inneren Unverfasstheit. „Ich bin das Messer und die Wunde“ (Baudelaire). Es gibt nur einen Weg aus diesem Leibgefängnis, es ist der gesungene Schrei, der schreiende Gesang. Und manchmal das Flüstern. Diese Rolle hat in Nigl ihren Vollender gefunden. „Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich Stille heißt?“, fragt Lenz den Pfarrer Oberlin (Henry Waddington) – und es antworten ihm oft nur Stimmen, die Rihm ihm als Klang gewordene Imagination beigefügt hat (gesungen von Irma Mihelic, Olga Heikkilä, Sabrina Kögel, Karin Torbjörnsdóttir, Stine Marie Fischer, Dominic Große und Eric Ander). Breth bringt sie als lemurenhafte Figuren auf die Bühne, unbeteiligt sitzen sie lesend in der Ecke oder beugen sich über Museumsvitrinen, in denen Bergmassive zu besichtigen sind.

In einer Zwangsjacke zurückgelassen

Wie so einem Verzweifelten begegnen? Breth spiegelt es in ihrer Zeichnung von Oberlin und dem eintreffenden Freund Kaufmann (John Graham-Hall). Dort der barmherzige Pfarrer, der, den Ekel überwindend, dem mit Kot Besudelten den Bruderkuss auf die Stirn setzt, hier der dem Elend fliehende Kaufmann, der den Wahnsinnigen mit einer Gerte züchtigen will.

Beide wissen sich am Ende nicht anders zu helfen, als Lenz in einer Zwangsjacke zurückzulassen. Andrea Breths leise Inszenierung ist genau in dieser zentralen, ergreifenden Szene von eminenter politischer, existenzieller Dringlichkeit: Ecce homo! Wie stehst du zur Kreatur? Wo ist deine helfende Hand? Warum versagst du dich? Das sind Fragen, die schmerzen. Weil sie jeden betreffen.