Reisen in das gelobte Land: Während sich die politischen Fronten verhärten, erinnert die Schau „Rilke und Russland“ im Marbacher Literaturmuseum der Moderne an eines der großen Erweckungserlebnisse der Literaturgeschichte.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Um die Beziehungen zu Russland war es schon einmal besser bestellt. So klingen die Kommentare zum Besuch der Bundeskanzlerin in dem Land, das gerade dabei ist, immer mehr Fäden zu kappen, die es mit Europa verbinden. Nie aber waren die Kontakte zwischen West und Ost wohl jemals wieder so innig, wie in der mystischen Einvernahme, in der sich der junge Dichter Rainer Maria Rilke zu Beginn des 20. Jahrhunderts das in den letzten Zügen liegende Zarenreich zurechtfantasierte. Was für Goethe Italien, für Hölderlin Griechenland, was für Peter Handke Serbien, das war für Rilke Russland: ein Sehnsuchtsort, eine Projektion und ein Kunstprogramm zugleich. Zweimal reiste er zusammen mit der in Petersburg geborenen mütterlichen Geliebten Lou Andreas-Salomé durch das Land, Reisen, die beider Beziehung letztlich nicht überlebte, aber zu einem der großen Erweckungserlebnisse der Literaturgeschichte wurden.

 

Was könnte man besseres tun, als in frostigen Zeiten an die heiße Verehrung zu erinnern, in der der vielleicht kostbarste Sprachzauberer der deutschen Literatur sein Schaffen ostwärts orientierte? „Dass Russland meine Heimat ist, gehört zu jenen großen und geheimnisvollen Sicherheiten, aus denen ich lebe“, ist auf dem schwarz-quadratischen Katalogeinband zu lesen, der durch die Ausstellung „Rilke und Russland“ im Marbacher Literaturmuseum der Moderne geleitet. Nicht nur inhaltlich beschwört diese Schau das Versöhnende gemeinsamer deutsch-russischer Kulturbeziehungen. Neben dem Deutschen und dem Schweizer Literaturarchiv ist auch das Staatliche Russische Literaturmuseum in Moskau eingebunden, dessen Beständen Marbach vor zwei Jahren bereits eine eindrückliche Fotoausstellung über Anton Tschechows Reise auf die pazifische Sträflingsinsel Sachalin verdankte.

Literarischer Ikonenmaler

„Rilke und Russland“ ist das Ergebnis dessen, was sich mit kluger Diplomatie erreichen lässt. In der Schweiz, wo Rilke zuletzt gelebt hat, in Russland und bei den Erben des noch in privater Hand befindlichen Nachlasses gelang es dem Kurator Thomas Schmidt, Türen zu öffnen, so dass sich unter den knapp 280 Objekten viele finden, die hier erstmals gezeigt werden. Im Herbst wandert die Schau in die Schweiz weiter, im nächsten Winter wird sie in Moskau zu sehen sein.

Mögen sich die politischen Fronten verhärten, die Kultur tickt anders. So steht man nun in dem goldgrund-visionären Vorraum, der den Betrachter auf die in den beiden folgenden Räumen entfalteten Motive einstimmt. Und man hört, wie das Geläut des Kreml-Glockenturms, das für Rilke zur Erweckung wurde, die in Marbach gepflegte kuratorische Orthodoxie mit überraschend neuen sinnlichen Tönen bereichert. Mit klug eingesetzten Mitteln, die das museumserfahrene Büro HG Merz ersonnen hat, wird der Rausch der Erfahrung für den Betrachter selbst zum Erlebnis. Eher als mit Vitrinen hat man es mit Schreinen zu tun, in denen sich die zwischen Reliquie und Medium schillernde Eigenart der „russischen Dinge“ offenbart, um die es Rilke ging. Kurz erläuternde Texte umreißen das Feld des jeweils Gezeigten, ohne es zu buchstabieren. Fotografien, Gemälde, Karten und Projektionen erweitern den Blick über das Handschriftengebiet hinaus auf das, was Russland für den Dichter werden sollte: eine Schule des Sehens.

Ikonisch hat dies der Maler Leonid Pasternak, der Vater des Literaturnobelpreisträgers Boris Pasternak, ins Bild gefasst. Eine Bleistift-Zeichnung und ein Ölgemälde zeigen den Dichter vor der Kreml-Kulisse, überragt von jenem Glockenturm, der seiner Gottsuche den österlichen Takt schlug. In Goldschrift glänzt Rilkes Bekenntnis in einem Brief an Lou Andreas-Salomé von der Wand: „Das war mein Ostern, und ich glaube, es reicht für ein ganzes Leben aus.“

Religion, die überwältigende Natur der Wolgalandschaft und Kunst waren die zentralen Momente der beiden Reisen, die aus dem dichtenden Gottsucher einen literarischen Ikonenmaler machen sollten: „Nichts ist mir zu klein und ich lieb es trotzdem / und mal es auf Goldgrund und groß“, heißt es in dem „Stunden-Buch“, dessen erster Teil nach der Rückkunft innerhalb weniger Tage entstand.

Vormodernes Märchenland

Doch der projektive Rausch, in dem Rilke Russland zu einem vormodern-ursprünglichen Märchenland verklärt, stößt auf eine Wirklichkeit, die anderen Gesetzen gehorcht. Beinahe tragikomisch mutet an, wenn er an die Mutter berichtet, einige Nächte in einer Bauernhütte verbracht zu haben und dabei verschweigt, dass die einbrechende Moderne auch hier die Familie längst in die Fabrik getrieben hat. Ganz abgesehen von den Zumutungen, die diese Form sentimentaler Einfühlung für Rilkes Reisegefährtin bereit hielt: „Splitter im Fingernagel und in den Nerven“, notierte Lou Andreas-Salomé. Das Reise-Kochgeschirr erinnert indes an die Camping-Gerätschaften, mit denen die Tourismusindustrie heute die Fluchten ins einfache Leben ausstaffiert.

Auch die Stilisierung des Dichterfürsten Tolstoj zum „ewigen Russen“ nimmt bei den beiden Pilgerfahrten Schaden. Ignorierte Tolstoj bei der ersten den jungen Mann komplett, so erschreckte er ihn bei der zweiten umso mehr mit einem harschen Verdikt gegen die Lyrik. Die Rolle, die Tolstoj zugedacht war, musste ein anderer übernehmen, der Bauerndichter Spiridon Droshshin, dessen naive Verse auch oder gerade in der Übersetzung Rilkes ihre künstlich-frisierte Einfachheit kaum verbergen. Erwiderte Liebe spricht dagegen aus den Zeugnissen Boris Pasternaks, der einmal bekannte, in seinem künstlerischen Schaffen nichts anderes getan zu haben, als Rilke zu übersetzen. Der Beziehung zu der Dichterin Marina Zwetajewa hat die Ausstellung eine Art Liebestempel geweiht, in der die überschwenglichen Briefzeugnisse gegenseitiger Vergötterung still vor sich hin glühen.

Für die gärenden Umwälzungen, die 17 Jahre später in die Oktoberrevolution münden sollten, war Rilke weitaus weniger empfänglich. In den Erinnerungen der Autorin Sofia Schill stößt man auf die auch in diesen Tagen wieder aktuelle Konstellation von Fortschrittsskepsis, Ursprungssehnsucht und Europafeindlichkeit: „Sie suchten allerorts das echte Antlitz Russlands“, schreibt Schill über die Reisenden. „Je weiter es von der Literatur und dem Europäertum entfernt war, um so besser.“ Rilke, der Urvater aller Russlandversteher.

Weil das dann doch ein zu einseitiges Bild abgeben würde, durchzieht den Ausstellungsparcours als visueller Kontrapunkt eine Fotofolge heutiger Reisender. Die FAZ-Fotografin Barbara Klemm und Mirko Krazanovic, der die einstige Route nachgefahren ist, zeigen eine Lebenswelt, vor der Rilke vermutlich die Augen nach innen gewendet hätte. Aber wer wiederum wüsste besser als er, dass das Schöne zugleich des Schrecklichen Anfang ist.