Die international bekannte Theatergruppe Rimini Protokoll gastiert in privaten Wohnzimmern und alle Gäste sind Teil des Spiels.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Göppingen - Was ist die kleinste Einheit, in der sich die Idee von Europa erfahren lässt? An diesem Abend wird sie im Göppinger Hailing erlebbar. „Hausbesuch Europa“ verrät ein Zettel im Flur des Wohnhauses in der Olgastraße, der als einziges darauf hindeutet, dass in diesen Privaträumen eine international bekannte Theaterperformance zu Gast ist. Die SPD-Stadträtin Christine Schlenker hat an diesem Abend ihre Wohnung zum Ort der Kunst erklären lassen. Doch keiner der 15 Besucher wird sich dabei zurücklehnen und bespielen lassen können. So ist es gewollt von Rimini Protokoll, deren Stücke stets politisch, performativ, interaktiv sind – und deren Macher Daniel Wetzel aus Göppingen stammt. Daniel Wetzels Bruder Valentin, der noch immer in Göppingen lebt, hat die Reihe vor Ort organisiert und tritt als einer der „Spielleiter“ auf.

 

Jeder Gast ist Teil des Spiels

Denn das ist es, was hier passiert, kaum hat man das gemütlich beleuchtete Wohnzimmer betreten: Man ist Teil eines Spiels, einer Performance. Und gerade noch beim Ankommen und Hallo sagen, in der einen Hand schon ein Saftglas, in der anderen den eben überreichten Buntstift, soll jeder nun nebenbei Orte in die Landkarte auf dem Tisch zeichnen, die ihm etwas bedeuten. „Ach, da kommsch Du ursprünglich her!“, ruft Nicole ihrer Bekannten zu, als diese einen Punkt malt. Julias Freund Andreas streicht derweil einen Ort in der Schweiz an: Basel, hier arbeitet er. Rimini Protokoll hat seine Fans überall, das wird an diesem Tag in der bunt gemischten Gruppe deutlich. Auch deswegen ist die Reihe, die mit zehn Vorführungen im Rahmen der „Interkulturellen Wochen“ in Göppingen gastiert, nicht groß über die Kreisgrenzen hinaus beworben worden: Sie wäre sonst sofort ausverkauft gewesen – und ist es mittlerweile dennoch längst.

Am Tisch schaltet der Spielleiter ein kleines Gerät an, nennt es Herzschrittmacher. Das sieht so retro aus, als hätte es Doc Brown im Filmklassiker „Zurück in die Zukunft“ entworfen, blinkt und piept und spuckt Zettel wie Kassenbons mit Handlungsanweisungen für die Gruppe aus.

Das Spiel beginnt

In den folgenden zwei Stunden soll es nicht nur wie zu Beginn um das Kennenlernen gehen. Hausherrin Christine – hier duzt man sich – muss beantworten, worüber in ihrer Wohnung zuletzt politisch diskutiert wurde. Es waren offenbar die Kommunalwahl, die Europawahl und das Göppinger Müllheizkraftwerk.

Und nicht zum einzigen Mal an diesem Spieleabend verschwimmen wie von selbst die Grenzen zwischen politischer und privater Person. An der Hausherrin, der Göppinger Stadträtin, lässt sich am besten erkennen: Beide sind gar nicht voneinander zu trennen. Im Kleinen soll das große politische Ganze erfahrbar werden, wenn die Spieler Allianzen und Kooperationen bilden müssen oder per Handzeichen Fragen beantworten: ob sie früher Klassensprecher waren, eine Arbeit haben, von der sie leben können und an die Demokratie glauben. Julia muss sich unter dem Tisch verstecken und darf erst auf Klopfzeichen von Edgar wieder auftauchen, andere sollen ohne Erklärung ab und zu aufstehen, weitere im Armdrücken gegeneinander antreten.

Der „Herzschrittmacher“ gibt das Tempo vor

Nie wird es öde, nie steht das Stück still, nie ist da jene peinliche Ruhe oder unsichtbare Wand, die Fremde bei ersten Begegnungen an Tischen so oft trennt. Der Herzschrittmacher wird nicht müde, ruckelt, zuckelt, klappert, plappert – er treibt die Gäste an, spuckt nebenbei Historisches aus: zu Maastricht, Dublin, zur europäischen Asyl-und Wirtschaftspolitik. Und eigentlich spielen alle auch darum: „Wer bekommt am meisten ab vom europäischen Kuchen?“, denn ein echter Rührkuchen backt in Christine Schlenkers Ofen derweil vor sich hin.

Interessant sind an diesem Abend die menschlichen Begegnungen: Was ist Europa in den Köpfen dieser unterschiedlichen Besucher? Einfach eine praktische Sache, wie für Julia und Andreas, die darüber diskutieren, ob Island eigentlich zu Europa gehöre, und wo es überall den Euro gebe? Oder die Errungenschaft einer Gemeinschaft ohne Grenzen, in Frieden, deren Überbau für Generationen entsprechend sozialisierter Akademiker Weltanschauung ist? Trotz aller Heterogenität rückt die Gruppe wie von Zauberhand zusammen, und dann ist da vielleicht eine Idee von Europa, mitten in Downtown Göppingen.