Im Stuttgarter Renitenztheater wird bei der Deutsch-Türkischen Kabarettwoche noch immer viel über den türkischen Macho-Präsidenten Erdogan gespottet. Aber jeder im Saal weiß: Wer Familienmitglieder in der Türkei hat oder selbst ab und an einreist, kann mittlerweile bereits aufgrund von Satire ernsthafte Probleme bekommen.

Stuttgart - Mit dem am Sonntag zu Ende gegangenen Festival des Renitenztheaters hat diese Beobachtung nur entfernt etwas zu tun: Am Mittwoch, während der deutsch-türkischen Kabarettwoche, lief auf den Bildschirmen einer Shisha-Bar in der Stuttgarter Innenstadt die urdeutsche ZDF-Talkshow „Markus Lanz“. Wie könnte man angesichts dieses Bildes auf die Idee kommen, dass hierzulande Politiker von Integrationsschwierigkeiten reden?

 

Nun gibt es aber nicht nur in Deutschland wirre Volksvertreter, sondern auch in der Türkei. Helfen soll gemeinsames Lachen, so wiederholte es Sebastian Weingarten, Intendant des Renitenztheaters, vor jeder der gemeinsam mit dem Deutsch-Türkischen Forum organisierten Veranstaltungen, ehe er die Gäste auf Türkisch und Deutsch herzlich willkommen hieß: Hoş geldiniz!

Wer die deutsch-türkischen Beziehungen analysieren will, muss etliche Facetten berücksichtigen: Einerseits ist da die große öffentliche Bühne, auf der sich Staatschefs auch mal als „Nazi“ beschimpfen, sich aber rasch wieder vertragen, sobald es ein wenig Geld respektive ein paar Waffen zu erhaschen gibt. Außerdem auf dem Spielplan: brutale Gangsterkrimis um die in Stuttgart vor Gericht stehenden „Osmanen Germania“, fesselnde Politthriller über eingekerkerte Journalisten und natürlich ein populäres Drama namens Flüchtlingsdeal.

Ansteckender Wahnsinn

Andererseits ist da die Mikroebene, der Alltag, die Kolleginnen und Freunde und natürlich auch der Retter, der einem nachts um halb drei für einen schmalen Taler in Fladenbrot gepackte Fleischscheiben mit auf den noch zu torkelnden Weg gibt.

Diese täglichen Begegnungen weiß kaum eine so treffend zu kommentieren wie Idil Baydar, die in ihrer Rolle als jogginghosentragender „Integrationsalbtraum“ Jilet Ayşe stets mit dem Publikum interagiert. „Wie viele Burkas hast du heute gesehen?“, ist eine ihrer zahlreichen Fragen an die Menge: „Keine? Warum verbieten wir dann welche?“ Die unausgesprochene Antwort ist bekannt: Weil es ein paar paranoide Rechtsradikale mittlerweile geschafft haben, auch die geistig intakte Bevölkerung mit ihrem Wahnsinn anzustecken.

Apropos Nationalismus: Zur politischen Lage der Türkei sagt die aggressive Kunstfigur, was in Deutschland geborene und aufgewachsene Menschen durchaus sagen können: „Jeder fragt mich: Was macht Erdogan da? Woher soll ich das wissen, lan?!“

Satire ist wieder wer

Freilich erwartet man vom Kabarett aber nicht nur Distanzierung oder legitimes Kopfschütteln, sondern auch Kritik. Der Überfall auf den nordsyrischen Kurdendistrikt Afrin, die Aushöhlung der freien Presse und der Justiz, sein lachhafter Machismo bei öffentlichen Kundgebungen - der türkische Präsident bietet eine gewaltige Angriffsfläche. Allein: Wer Familienmitglieder in der Türkei hat oder selbst ab und an einreist, kann mittlerweile bereits aufgrund von Nichtigkeiten ernsthafte Probleme bekommen.

Moritz Netenjakob, der mit seiner Frau Hülya Dogan-Netenjakob, seinem Schwager Serhat Dogan und seinem Kollegen Markus Barth am Abschlusstag die sonst nur in Köln zu sehende Show „Zuckerfest für Diabetiker“ präsentierte, sieht es positiv. „Was ich toll finde an Erdogan: Man fühlt sich als Satiriker mal wieder ernst genommen! Wir sind wieder wer!“

Fatih Çevikkollu, nicht nur der bestangezogene deutschsprachige Kabarettist, sondern auch einer der versiertesten und provokantesten, beschrieb das Dilemma mit einer Anekdote: Er sei zu einem Gastspiel in die Türkei eingeladen worden. „Natürlich hatte ich Puls“, so Çevikkollu, würde er doch womöglich über „Du weißt schon wen“ sprechen. Ob er’s tat, erzählt er in seinem Programm „Fatih Morgana“ nicht.

Präsident mit gefälschtem Diplom

Im Renitenztheater jedenfalls gab er Recep Tayip Erdogan, der sich unter anderem mit dem ehemaligen Außenminister Sigmar Gabriel angelegt hatte, der Lächerlichkeit preis: „Gabriel hat im Gegensatz zu einem gewissen Ministerpräsidenten kein gefälschtes Diplom.“ Der Hintergrund: Nur, wer ein Universitätsdiplom vorweisen kann, kann nach der türkischen Verfassung Staatspräsident werden. Erdogan legte seines mit reichlich Verspätung und erst nach öffentlichem Druck vor. Blöd nur: Dieses Diplom wurde anno 1981 von der Marmara-Universität ausgestellt, die erst 1982 gegründet wurde.

Man kann dem deutsch-türkischen Kabarett jedenfalls nicht vorwerfen, die Augen zu verschließen. Das ist gut. Was man indes spürt: So unbekümmert, wie es vor ein paar Jahren noch möglich war, lassen sich Witze über den Potentaten vom Bosporus nicht mehr reißen. Das ist schlecht. Erdogans Schatten scheint zu wachsen wie eine Hitler-Eiche. Über eine solche sagte der Kabarettist und spätere KZ-Insasse Werner Finck in den 1930ern: „Vor ein paar Monaten war sie noch ganz klein, gerade bis zu meinen Knöcheln, dann reichte sie mir bis an die Knie, und jetzt steht sie mir schon bis zum Hals.“