Der Cheflobbyist der geistig Behinderten tritt ab: Robert Antretter hat zwölf Jahre die Lebenshilfe geführt.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)

Backnang - Manche Frauen weinen am Telefon. Sie erzählen, wie Fremde sie auf dem Spielplatz wegen ihrer behinderten Kinder schief angeguckt hätten und fragten, ob sie nicht an eine Abtreibung gedacht hätten. „Solche Anrufe gibt es öfter in unserem Büro“, sagt Robert Antretter. Er berichtet so von seinen zuweilen bedrückenden Erfahrungen als Vorsitzender der Lebenshilfe. Zwölf Jahre lang stand der Backnanger an der Spitze der Selbsthilfeorganisation für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Angehörigen. Heute wird als seine Nachfolgerin voraussichtlich die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) gewählt.

 

135 000 Mitglieder und 3200 Einrichtungen zu vertreten, ist mehr als ein Vollzeitjob. 50 bis 60 Stunden in der Woche sind für das Ehrenamt zu stemmen – für Vorträge, Sitzungen, Besuche von Werkstätten sowie die Überzeugungsarbeit in der Politik. Er sei der „Cheflobbyist der geistig Behinderten“ hat Antretter einmal gesagt. Der Mann, der 18 Jahre für die SPD im Bundestag saß, konnte nicht Nein sagen, als man ihm den Job antrug. Stets hat er für die Würde des Menschen eintreten wollen. Deshalb ist der heute 73-Jährige, geprägt von den Erfahrungen der Nazizeit, früh in die Politik eingetreten. „Diese Einstellung ist wohl auch eine Generationenfrage“, sagt der gläubige Katholik. Die Bayern holten ihn, der sich als „wertkonservativ“ bezeichnet, in ihre Ethikkommission.

Angst vor zunehmender Kälte in der Gesellschaft

Nie wieder sollten Schwache und Benachteiligte so unter die Räder kommen wie im Dritten Reich. Dieser Grundsatz erklärt die große Energie, mit der Antretter sich engagierte. „Um die Zukunft behinderter Menschen mache ich mir Sorgen“, sagt der gelernte Schriftsetzer. Die Möglichkeiten der medizinischen Diagnostik würden stets wachsen. Damit steige das Risiko der Selektion. Dazu komme die Ideologie von ewiger Jugend und dem perfekten Menschen. Dass der Bundestag die Präimplantationsdiagnostik in engen Grenzen zugelassen hat, hält er ebenso für fatal wie die Tatsache, dass heute 92 Prozent der Down-Syndrom-Kinder abgetrieben werden.

„Wenn wir auf dem Weg weitergehen, werden wir viel Kälte produzieren“, sagt er. Ohnehin sei es ein Irrglaube, körperliche und geistige Handicaps ließen sich völlig vermeiden. Acht Millionen Menschen in Deutschland hätten eine schwere Behinderung, aber nur bei vier Prozent habe sie schon bei der Geburt vorgelegen. In seinem Amt hat Antretter aber auch Ermutigendes erlebt. Die Sensibilität für die Anliegen der Behinderte sei gewachsen. Die Gleichstellungsgesetze bezögen jetzt auch Behinderungen mit ein – das sei ein politischer Erfolg. Bald soll ein kleiner, handlicherer Ausweis für das kostenlose Bahnfahren genügen. Das klingt unbedeutend. „Es durchzusetzen, hat mich aber zwei bis drei Jahre gekostet“, berichtet Antretter.

Die Behindertenhilfe braucht mehr Geld

Nun wünscht er sich, dass bald das Bundesteilhabegesetz kommt. Dann würde die Hilfe für die Behinderten (momentan zwölf Milliarden im Jahr) nicht nur von den Kommunen finanziert, sondern auch vom Bund und den Ländern. Das brächte mehr Sicherheit. Denn neue Herausforderungen – etwa die wachsende Zahl Älterer unter den Behinderten – erforderten neue Mittel.

„Alles hat seine Zeit“, sagt er, deshalb hört er auf. Die vier Enkel sollen mehr vom Opa haben als die vier Kinder einst von ihrem Vater. Im Ruhestand will er Geige spielen und wandern. Er will mehr lernen über die Euthanasie-Verbrechen der Nazis. Und er verfolgt ein Projekt: Am Holocaust-Gedenktag solle im Parlament ein Angehöriger eines Behinderten reden, der von den braunen Machthabern umgebracht wurde. Der Bundestagspräsident, so Antretter, habe schon Zustimmung signalisiert.