Eine psychisch kranke Frau hat einen Säugling entführt. Er lag auf der Entbindungsstation neben seiner schlafenden Mutter im Bettchen. Dank eines Anrufs ist alles gut ausgegangen.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Es ist der Albtraum für alle Eltern: eine psychisch kranke Frau hat am 29. Dezember von der Entbindungsstation des Robert-Bosch-Krankenhauses (RBK) einen sechs Tage alten Säugling entführt. Sie konnte das Klinikgelände unbemerkt mit dem Jungen verlassen. Als die 26 Jahre alte Mutter um 7.30 Uhr aufwachte, war das Bettchen neben ihr leer. „Sie ist auf den Flur gerannt und hat gerufen: Wo ist mein Baby?“, berichtet der Anwalt der Eltern, Macit Karaahmetoglu. Doch das Pflegepersonal wusste nichts, genauso wenig die zweite Mutter, mit der sich die 26-Jährige das Doppelzimmer teilte.

 

Es folgte ein Großeinsatz der Polizei mit rund 60 Beamten, darunter Spezialisten für Entführungen. Zunächst konzentrierte sich die Fahndung nach Polizeiangaben auf das nähere Umfeld des Krankenhauses – ohne Erfolg. Dass der Entführungsfall dennoch einen glücklichen Ausgang genommen hat, ist einem umsichtigen Zeugen zu verdanken. Der Pflegevater der 22-jährigen psychisch Kranken sei stutzig geworden, als diese am Telefon von einem Säugling erzählte, so Polizeisprecher Jens Lauer. Der Mann rief bei der Polizei an. Rasch habe sich herausgestellt, dass es sich um das vermisste Baby handelt. Der Junge sei im Olgahospital untersucht worden, ihm fehlte nichts. Anschließend kam er zu seinen Eltern zurück. Rund sieben Stunden hatten diese um ihr Baby gebangt. Sie waren nach Auskunft des RBK von Ärzten, Psychologen und Seelsorgern betreut worden.

Windeln und Babynahrung in der Wohnung

Die Vernehmung der 22-Jährigen ist offenbar nicht einfach gewesen. „Zu dem Tatmotiv sagt sie, sie sei aufgewacht und plötzlich lag das Kind neben ihr“, sagt Lauer. Entweder könne oder wolle sie sich nicht erinnern. In der Wohnung hätten sich Windeln und Babynahrung befunden. Die Frau, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung tagsüber in Behandlung war und nur abends und nachts zu Hause war, wurde noch am gleichen Tag in die geschlossene Abteilung einer Klinik eingewiesen.

Eigentlich sollte die Öffentlichkeit gar nichts über den Fall erfahren. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hatte entschieden, die Entführung nicht nach außen zu kommunizieren – aus Rücksicht auf die Familie. Daran hielt sich auch das RBK. Die Eltern jedoch wollen, dass berichtet wird. „Sie waren schockiert, dass es totgeschwiegen wurde“, sagt der Anwalt Karaahmetoglu. Die Sicherheitsstandards im RBK müssten verbessert werden, indem zum Beispiel Kameras mindestens auf dem Flur installiert werden. Außerdem kritisiert der Anwalt, dass noch kein offizielles Wort der Entschuldigung gekommen sei. Die Mutter sei weiterhin „total traumatisiert“, sagt er.

Wachdienst als Akutmaßnahme

Die Sicherheitsmaßnahmen im RBK seien bereits sehr hoch, sagt der Ärztliche Direktor, Mark Dominik Alscher. Seit vier Jahren gebe es beim Haupteingang eine Kameraüberwachung, seit zweieinhalb Jahren einen nächtlichen Sicherheitsdienst. Zwischen 20 und 6 Uhr komme man nur über die Nachtglocke ins Haus. Man wolle weiterhin ein offenes Haus sein, denke aber über weitere Maßnahmen nach. Seit dem Vorfall sei als „Akutmaßnahme“ ein Wachdienst auf der Entbindungsstation präsent, so Alscher. Als „nicht umsetzbar“ bezeichnet er die Einführung eines Armbändchens mit Chip. Verlässt das Baby die Station, geht ein Alarm los. Weil viele Mütter mit ihren Babys ins Café gehen, wären Alarme ein Dauerzustand. „Wir haben kein Problem, uns offiziell zu entschuldigen“, sagt Alscher. Bisher habe man den Zeitpunkt als zu früh erachtet. In der Akutphase seien Worte des Bedauerns ausgedrückt worden. Er habe aber großes Verständnis, wenn die Eltern diese nicht wahrgenommen hätten.

In der größten Stuttgarter Geburtsklinik, der Frauenklinik, erhalten frischgebackene Eltern ein Merkblatt mit Sicherheitshinweisen, um auf die Gefahr von Entführungen aufmerksam zu machen. Eine Videoüberwachung sei nicht installiert, so die Klinikumssprecherin Ulrike Fischer. Absolute Sicherheit gebe es nicht. Die Mutter könne einem wirklich leidtun, meint der Sprecher des Marienhospitals, Rainer Kruse. „Wenn ganz viele Negativfaktoren zusammenkommen, kann das in jeder Klinik in Deutschland passieren“, glaubt er.