Der Brite Robert Harris erzählt in seinem Politthriller „Vergeltung“ aus zwei Perspektiven die Geschichte der „Wunderwaffe V2“, mit der die Nazis in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs noch eine Wende zum „Endsieg“ herbeiführen wollten.

Stuttgart - In diesen Tagen sind unser Leben und unsere Gesundheit in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem bedroht durch etwas Winziges, ein Virus, das „so etwas wie eine Naturkatastrophe“ darstellt, wie es die Bundeskanzlerin ausdrückte. Im November 1944 hingegen waren das Leben und die Gesundheit der Bewohner von London durch etwas Großes und Menschengemachtes in Gefahr: durch die deutsche „Wunderwaffe V2“. Sie war die erste ballistischen Rakete, die unsichtbar für die Luftabwehr durchs Weltall ihrem Ziel entgegenflog und deshalb ohne Vorwarnung einschlug.

 

Eine Gruppe von Ingenieuren um den Raketentechniker Wernher von Braun hatte sie in einem Geheimprojekt in Hitlers Auftrag entwickelt. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs hoffte die nationalsozialistische Führung des Deutschen Reichs, mit ihr noch eine Wende zum „Endsieg“ herbeiführen zu können. Das „V“ stand in grotesker Verkehrung der historischen Realität für „Vergeltung“. Von diesem letzten verzweifelten Versuch der deutschen Luftwaffe handelt der neue Roman „Vergeltung“ des englischen Bestsellerautors Robert Harris.

Fiktive Protagonisten in historischem Setting

Harris gehört zur kleinen Riege der weltweit erfolgreichen Schriftsteller, die gediegene Thriller in einem historischen Setting verfassen. Sie spielen mal im Römischen Reich, mal in einer ins Mittelalter zurückkatapultierten Zukunft (sein vorhergehender Roman „Der zweite Schlaf“), in einem hypothetischen Deutschland, das den Krieg gewonnen hat („Vaterland“) oder rund um die Verhandlungen über das Münchner Abkommen 1938 („München“). Der Trick guter historischer Romane besteht darin, geschichtlich verbürgten Persönlichkeiten fiktive Protagonisten an die Seite zu stellen. Sie erleben die wirklichen Ereignisse aus nächster Nähe mit, können aber mit ihren ganz eigenen erfundenen Verstrickungen, Liebeshändeln und Gefühlswelten gezeigt werden.

In „Vergeltung“ geschieht das in zwei nebeneinander laufenden Handlungssträngen. In Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom tüftelt der Ingenieur Rudi Graf am Antrieb einer Rakete. Er hadert mit seiner Rolle in einem als verloren erkannten Krieg, mit Fragen von Schuld und Verantwortung, während sein Freund Wernher von Braun bei Hitler antichambriert, um sich die nötigen Ressourcen für die Konstruktion im großen Stil zu sichern.

Der Führer ist begeistert, und schließlich gelingt ein erfolgreicher Teststart. Von geheimen, ständig wechselnden Startpunkten im besetzten Holland aus beginnt die Bombardierung Londons mit der V2.

Frauen fahnden nach den Abschussanlagen

Dort, in London, entgeht Kate Caton-Walsh, Offizierin im Frauenhilfsdienst der britischen Luftwaffe und in eine Affäre mit ihrem Vorgesetzten verstrickt, nur knapp einem V2-Einschlag. Entschlossen, ihren patriotischen Beitrag zu leisten und zugleich der glücklosen Beziehung zu entkommen, meldet sich Kate zu einer Frauen-Sondereinheit. Stationiert im gerade erst befreiten Belgien, sollen die Frauen blitzschnell die Flugbahn der Raketen berechnen, um den Standort der Abschussanlagen ausfindig zu machen. Nur wenn das rechtzeitig gelingt, können die britischen Bomber den nächsten V2-Abschuss verhindern. Auch Kate sieht sich mit Schuld und Verantwortung konfrontiert, als sie eine sexuelle Beziehung mit einem jungen Belgier beginnt – der sich als deutscher Spion entpuppt.

Der amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon hat in seinem komplexen Roman „Die Enden der Parabel“ das gleiche Motiv gewählt: eine fast spirituelle Verbindung zwischen den Menschen am Abschussort und am Einschlagsort der V2. Natürlich spielen der Thrillerautor Harris und der ewige Nobelpreisanwärter Pynchon literarisch in völlig anderen Ligen. Aber für Harris’ Rudi Graf wie für Pynchons Protagonisten Tyrone Slothrop hat die V2 eine nahezu erotische Ausstrahlung. Sie zwingt nicht nur ihre Konstrukteure, sondern sogar ihre Opfer in eine Amour fou.

Das zeigt sich in Harris’ desillusionierendem Schlusskapitel, das nach Kriegsende spielt. Die Briten umwerben den Raumfahrtexperten von Braun, denn auch sie wollen eine solche Waffe bauen. Und einen Moment lang scheint es, als seien die englischen Offiziere und selbst Kate ein bisschen verliebt in diese Rakete.

Robert Harris: Vergeltung. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne, 368 Seiten, 22 Euro