Robert Reiter hat eine Mission: Jeder soll sich von jedem Ort der Welt aus mit der Computermaus zu den schriftlichen Überresten der Historie klicken können. Das Staatsarchiv in Ludwigsburg ist Station Nummer 61 auf der Forschungsreise des Österreichers.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Ludwigsburg - Was hat er nicht schon alles getan. Er war Kellner, Barchef, Alleinunterhalter und Privatdetektiv. Umso erstaunlicher ist, dass Robert Reiter sich jetzt mit Vorliebe dort aufhält, wo es kein bisschen glamourös, sondern eher staubig zugeht. Aber keine Sorge, ein ganz besonderer Nimbus umgibt ihn auch in den Archiven, durch die er nun seit sieben Jahren tingelt. Scanman nennen sie ihn hier. Einen Hybriden aus technischem Sachverstand und nicht greifbaren Zauberkräften.

 

Wenn Reiter vor einem steht, in seinem kurzärmligen, grün-blau karierten Hemd, dem grauen Schnauzbart und der Brille, strahlt er mit seinen 56 Jahren kindliche Ungeduld aus. Er wirkt so, als habe er ständig etwas zu versäumen. Das Leben ist zu kurz, sagt allein sein Redetempo, um sich mit Ausruhen aufzuhalten.

Sein Mitteilungsbedürfnis nimmt einen sofort mit in seine Welt. Er spricht so schnell, dass man sich anschnallen will, um nicht aus der Kurve getragen zu werden. Von St. Pölten und dessen Klosterarchiv, wo für ihn 2009 alles anfing, erzählt er gänzlich uneitel in seinem unüberhörbaren niederösterreichischen Dialekt. Kaiser- und Klosternamen, Geschichtsdetails und die eigenen Arbeitsstationen – er hat sie alle parat. Er erklärt, dass es darum gehe, den Menschen sämtliche Schriftstücke der österreichischen Klöster und jetzt auch vieler deutschen Archive zugänglich zu machen. Das ist seine Mission.

Der kleine Bruder von Superman

Vor allem beschäftigt er sich mit Urkunden. Das Staatsarchiv in Ludwigsburg ist Station Nummer 61 auf Reiters Reise durch die gut geschützte Welt der Archive, wo die Luft nie zu warm und nie zu trocken sein darf und es im Regelfall duster ist – zum Wohlbefinden der Urkunden. Weshalb niemand so ohne Weiteres Zutritt hat, es sei denn, er gründelt aus Forschungszwecken in der Vergangenheit. Für die Archive ist Scanman so etwas wie der kleine Bruder von Superman: Er macht scheinbar Unmögliches möglich und Träume wahr – die nämlich, sich mit einem Mausklick zu den schriftlichen Überresten der Historie zu klicken.

8500 Schriftstücke will Reiter in dem halben Jahr, das er in Ludwigsburg bis Ende Juni mit Unterbrechungen verbringt, erfassen. Bereits zum sechsten Mal hat er im zweiten Stock des Zeughauses seinen Scanner aufgebaut. Hinter einer schweren Brandschutztür verbringt er seine Tage. Er war in Klagenfurt, Ulm, Wien, und in Passau. Überflüssig zu sagen: Robert Reiter rastet nie. „Für Urlaub habe ich keine Zeit“, sagt er. Er ist schließlich angetreten, die Vergangenheit zu digitalisieren. Oder zumindest möglichst viel davon. Das ist eine große, wenn nicht zu große Aufgabe. Sie schüchtert ihn aber offensichtlich nicht ein. Im Gegenteil: Sie weckt seinen Ehrgeiz und macht ihn schon jetzt zum Weltrekordhalter.

Reiter greift nach ein paar fingerhutgroßen Magneten, um damit einen alten Kaufvertrag vom 6. März 1514 auf der Scanunterlage zu befestigen. Das Pergamentstück aus Tierhaut haben zuvor zwei Helfer sorgfältig entfaltet und die Knicke glatt gestrichen, damit man die Schrift auch wirklich gut lesen kann.

Reiter drapiert das große Siegel vorsichtig auf der weißen Platte des Scanners. Die Kodak-Farbkarte legt er ebenfalls dazu, 20 Zentimeter ist sie lang. So weiß der Betrachter später, wie groß die Urkunde ist und welche Farbe sie im Original hat. Jeder Handgriff ist längst Routine. Dann fährt die dünne weiße Lichtlinie des Scanners einmal von links nach rechts über die Fläche. Fertig. Die ganze Prozedur dauert keine fünf Minuten. Danach ist die Datei auf der Computerfestplatte gespeichert. Die Helfer falten die Urkunde wieder zusammen, stecken sie in einen hellbraunen Umschlag zurück – und wer weiß, vielleicht bleibt sie für immer dort. Denn von nun an kann man ihr Abbild via Staatsarchiv mit nur ein paar Mausklicks überall auf der Welt lesen.

Reif für einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde

„Niemand hat mehr Urkunden in den Händen gehalten als ich“, sagt Reiter. „Das ist schon toll, etwas in den Händen zu halten, was sonst fast niemand in die Hände bekommt.“ Aber erst, wenn er in Rente gehe, sei die Zeit reif für einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde.

Reiter ist pragmatisch. Er würde den eigenen Rekord eh jedes Jahr selbst wieder einstellen. Denn Reiter ist der Einzige seiner Art in Mitteleuropa. Ein echtes Unikat – wie seine Urkunden. 120 000 Zeugnisse aus der Vergangenheit wird er am Ende seines Berufslebens auf Festplatten gespeichert haben. Wenn schon nicht für die Ewigkeit, so wenigstens für die nächsten Jahrzehnte – bis ein neues Speichermedium kommt.

Von seinem niederösterreichischen Heimatort Kuffern aus tourt er im Auftrag des europäischen Projekts Icarus durch die österreichischen und süddeutschen Archive und scannt Urkunde um Urkunde ein. Icarus steht abgekürzt für „International Centre for Archival Research“ , ein Netzwerk von mittlerweile mehr als 160 Archiven und wissenschaftlichen Institutionen aus 30 europäischen Staaten, den USA und Kanada mit Sitz in Wien.

Ein bunter Hund

Robert Reiter, der hemdsärmelige Autodidakt, der weder Geschichte studiert noch das Archivwesen erlernt hat und dennoch von einem historischen Ereignis zum nächsten springt und Bescheid weiß, hat sich den Respekt der Archivverantwortlichen über die Jahre erarbeitet. Wer weiß, ob ihm das so reibungslos gelungen wäre, hätten sie gewusst, welch bunten Hund sie sich ins Haus holen.

Denn gradlinig ist Reiters Leben nicht verlaufen. Dass er nun täglich mit jahrhundertealten Handschriften umgeht, hat er sich selbst vor zehn Jahren noch nicht vorstellen können. Mit großer Regelmäßigkeit ist er in seinem Leben beherzt ins kalte Wasser gesprungen.

Als Jugendlicher kellnert er im elterlichen Weinbaubetrieb im Wiener Speckgürtel, mit 18 zieht es ihn nach Tirol. In Serfaus wird er Österreichs jüngster Barchef. Dann packt ihn wieder die Abenteuerlust: Obwohl er noch nie ein Mikrofon in der Hand gehalten hat, kauft er sich auf Pump eine Musikanlage – mit Lautsprecher, Mischpult und allem, was dazugehört. Als One-Man-Show tritt er erst im Hotel Astoria in Serfaus und dann in den deutschsprachigen Cafés auf. „Ich habe wie Ivan Rebroff eine Stimme, die über drei Oktaven geht“, sagt er. Wenn er „Ein bisschen Frieden“ singt, klingt er tatsächlich wie die Schlagersängerin Nicole. Aber er kann auch Roland Kaiser. Alles überhaupt kein Problem.

Familienforscher in eigener Sache

Als er genug vom Alleinunterhalterdasein hat, arbeitet er als Detektiv. Er liegt auf der Lauer, um Beweise gegen untreue Ehemänner und -frauen zu liefern oder macht in Elektrogroßmärkten Jagd auf Ladendiebe. Mit dem Ende des Kalten Krieges drückt die Konkurrenz aus den osteuropäischen Ländern die Preise. Reiter erfindet sich ein weiteres Mal neu: Er wird Scanman, findet die neue Rolle seines Lebens.

Robert Reiter selbst nennt sich bescheiden nur einen Angestellten. Er sei 2009 einfach zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle gewesen – und traute sich was. Als er damals hört, dass der Chef des St. Pöltener Archivs einen Mitarbeiter für das Scan-Projekt sucht, sagt er beherzt: Ich bin der, den Sie suchen!

Zu diesem Zeitpunkt steckt er schon über beide Ohren tief in seiner eigenen Familiengeschichte, geht in den Archiven als Familienforscher in eigener Sache ein und aus. Ein Ordner mit Dokumenten, den ihm sein Großvater geschenkt hatte, weckte nach dessen Tod sein Interesse. „Ohne meinen Großvater und dessen Vermächtnis wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt bin.“ Er wäre nicht Scanman und auch nicht Leiter mehrerer Topotheken. Das sind lokale Datenbanken, in die Lokalhistoriker ihre gesammelten Dokumente einstellen.

Ahnenforscher wie er durchforsten alles, was ihnen zugänglich ist. 17 Generationen hat sich Robert Reiter schon in die Vergangenheit zurückgearbeitet. Mathias Reiter, der älteste ihm bekannte Vorfahr, wurde 1620 geboren. Und damit gibt er sich noch lange nicht zufrieden. Das Einzige, das Robert Reiter bremsen kann, ist die Endlichkeit der menschlichen Existenz: „Ich bräuchte noch zwei bis drei Leben, um das alles zu bewältigen.“

Wie jeden Tag wird er nach Feierabend von Ludwigsburg nach Marbach fahren, sich in sein Hotelzimmer zurückziehen und weiter an seiner eigenen Familiengeschichte forschen. Die digitale Welt und Menschen wie er machen das möglich. Mit einem Mausklick ist er bei seinen Vorfahren. Wäre doch gelacht, wenn es vor Mathias Reiter nicht noch mehr Reiters gäbe, die nur darauf warten, von ihm in die Ahnengalerie eingereiht zu werden.