Die Innenminister diskutieren darüber, Rockergruppen zu verbieten. Man ahnt ziemlich viel, doch man weiß wenig über die Rockergruppen.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)
Stuttgart - Die Jacke mit den Symbolen der Gewalt hängt über einem Stuhl in der Ecke. Lutz Schelhorn lässt sich in seinem Atelier in den Sessel fallen. Er zündet sich eine Zigarette an und holt einen gelben Leitz-Ordner hervor. Presseberichte, Schreiben von Gerichten, ausgewähltes Material der vergangenen Wochen. "Überall der gleiche falsche Scheiß. Kaum einer recherchiert wirklich." Die Öffentlichkeit habe ihr Urteil gefällt. Schelhorn ist Hells Angel und ihr Sprachrohr. Der Stuttgarter ist eines von fünf Clubmitgliedern, das mit der Presse spricht. Und das auch nur ungern. Sie mögen die Presse nicht. Das war schon immer so. Und heute, wo sie wie nie zuvor im Zentrum heftiger Debatten stehen, erst recht. Niemand wolle die Wahrheit hören, sagt Schelhorn.

Lutz Schelhorn legt die Schachtel Lucky Strike und das Feuerzeug neben den Aschenbecher. Einige Stunden später wird der überquellen, und Schelhorn wird viel über Freiheit, Repression, falsche Urteile und ein Lebensgefühl gesprochen haben. Er ist Präsident des Stuttgarter Ablegers, eines "Charters". Früher war er einer der jüngsten Hells Angels weltweit, heute ist er dienstältester "President" in Deutschland. Männer in schwarzen Lederjacken, welche bestickt sind mit dem geflügelten Totenkopf, verbreiten Angst und Schrecken. So ist der Eindruck. Schelhorn nennt es Hetzjagd. Man werde zum Staatsfeind Nummer eins stilisiert. Schleswig-Holsteins Innenminister Klaus Schlie hat die Gruppen als Gefahr für die Demokratie bezeichnet. "Unverantwortlich", sagt der Rocker.

Lutz Schelhorn ist Jahrgang 59, ein in die Jahre gekommener Engel aus der Hölle. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die Haare sind grau, das rote T-Shirt mit dem Logo des Clubs spannt am Bauch. Im Winter fährt er kaum noch mit der Harley. Zu kalt. Er ist in Stuttgart eine bekannte Größe, er hat sich um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Stadt verdient gemacht, sein Club spendet regelmäßig für karitative Zwecke, der OB begrüßt ihn mit Handschlag. Kritiker sagen, dass der angesehen Fotograf ein Feigenblatt für die Gruppe sei. "Quatsch", sagt er: "So wie ich sind die meisten Hells Angels." Diese Geschichte gibt es zweimal.

Waffenbrüder oder Bruderschaft?


Die Behörden von Interpol bis zum BKA glauben, dass es sich bei Rockerclubs wie den Hells Angels oder den Bandidos, im Polizeijargon "Outlaws Motorcycle Gangs" genannt, um kriminelle Banden handelt, die im Drogen- und Menschenhandel aktiv sind und um Territorien kämpfen. In Skandinavien forderte ein Rockerkrieg zwischen Bandidos und Hells Angels Dutzende von Toten. Auch in Deutschland starben dabei Menschen. Bei Europol wurde 1999 eine Analysedatei eingerichtet, der 13 EU-Staaten sowie Norwegen, die USA, Island, Kanada und Australien angehören, um sich abzustimmen und zu unterstützen. "Brothers in Arms" statt Bruderschaft?

Im Büro von Sigurd Jäger in einer Ecke steht ein Bistrotisch mit einem Wimpel in den Landesfarben. "Baden-Württemberg" und "Landeskriminalamt" steht drauf. Jäger ist Rockerexperte in Reihen des LKA. Er trägt ein dunkles Jackett mit Hemd, und er hat eine hellgrüne Akte über die Rocker mitgebracht. Sie ist dünn, Informationen sind rar. Das lange Auswahlverfahren für Neumitglieder macht den Einsatz von V-Leuten schwierig. Man ahnt ziemlich viel, doch man weiß wenig über die Rockergruppen. Man sammelt eifrig Daten und schätzt das Gefahrenpotenzial hoch ein, seit langem stehen sie unter besonderer Beobachtung, aber: "Der Nachweis der organisierten Kriminalität ist uns im Land noch nicht gelungen", sagt Jäger. Im bundesweiten Lagebild zur organisierten Kriminalität tauchen die Rockergruppen auf. Im Bericht von 2008 sind unter den 575 Vorgängen 15 Verfahren gegen Rockergruppierungen aufgelistet, darunter unter anderen neunmal die Bandidos, zweimal die Hells Angels, zweimal der Club Gremium.

Der 17. März 2010 hat vieles verändert: An diesem Tag wurde ein Polizist von einem Mitglied der Hells Angels durch die Tür erschossen, als ein Sondereinsatzkommando in die Wohnung eindringen wollte. Nach dem Vorfall sprachen die Hells Angels den Angehörigen ihr Beileid aus, verneinten aber, dass es sich um einen heimtückischen Mord gehandelt habe. Der Vorfall hat die Lage aber dramatisch verändert und die Rufe nach einem massiveren Vorgehen lauter werden lassen. "Die Anzahl und die Schwere der Gewaltdelikte, insbesondere die Tötung eines Polizeibeamten, geben Anlass zur Sorge", heißt es beim BKA. Am Mittwoch haben Bandidos und Hells Angels angesichts der Häufung von blutigen Vorfällen ihren Konflikt für beendet erklärt. "Ein Ablenkungsmanöver", sagt Hamburgs Innensenator Christoph Ahlhaus. Dies ändere nichts an den Straftaten im Milieu.

Hells Angels als globaler Mythos


Die Hells Angels sind ein globaler Mythos. Sie verkörpern für ihre Mitglieder eine Art Nonkonformität in einer spießigen, angepassten Welt. Freiheit, Respekt, Ehre, Loyalität sind die Pfeiler ihres Wertekanons. Machismo steht über allem. Korpsgeist prägt ihr Handeln: Hat einer Probleme, hilft die Gruppe, Konflikte werden intern geklärt. "Wir stehen zueinander, egal, was passiert - was aber nicht heißt, dass man alles gutheißt", sagt Schelhorn. "AFFA" ist ihr Schlachtruf: Angels forever, forever Angels. Die Angels glauben, dass sie aufgrund ihrer Andersartigkeit den Angriffen des Establishments ausgesetzt sind.