Bislang waren die Mitglieder des türkischen Boxclubs Osmanen Germania vor Gericht schweigsam. Das ändert sich. Ein überraschendes Geständnis aus der Türkei könnte eine Wende bringen.

Stuttgart - Kaum ein Wort ist bisher über die Lippen der acht Angeklagten im großen Osmanen-Prozess gekommen. Umso ungewöhnlicher ist die Aussage von Mustafa Kilinc, dem 2017 amtierenden Vizepräsidenten des Boxclubs Osmanen Germania in Stuttgart, genannt „Kara Kan“. Er wird von der Polizei gesucht und ist in die Türkei geflüchtet, vor Gericht ist sein Name immer wieder genannt worden. Kilinc hat sich nun an unsere Zeitung gewandt mit der Ankündigung, sich Anfang nächster Woche den Behörden zu stellen – er hoffe dadurch auf Strafmilderung, sagt er.

 

Der Vorstoß aus der fernen Türkei überrascht. Denn bisher war die Strategie des Boxclubs Osmania Germania zu den Vorwürfen der Anklage wegen Mordversuchs, Menschenhandels, exzessiver Gewalt gewesen, nichts zu sagen. Das hat sich jetzt plötzlich geändert.

Kilinc, in der Türkei im Moment dem Zugriff der deutschen Justiz entzogen, übernimmt die Verantwortung für diese zentrale Tat: Es geht um eine Abstrafaktion in Herrenberg Anfang Februar des vergangenen Jahres. Der in Ungnade gefallene Gießener Osmanen-Präsident Celal Sakarya soll dort tagelang misshandelt, angeschossen und geschlagen worden sein. Es ist der wichtigste der 20 Anklagepunkte, sozusagen das Herzstück des ganzen Verfahrens.

Wer ist verantwortlich für den Herrenberger Mordversuch?

Daher wird um die Deutungshoheit über diese Tat in der Nacht auf den 3. Februar intensiv gerungen, dem Gericht wurden in den vergangen Verhandlungstragen viele Versionen erzählt. In Aussagen bei der Polizei wurde die Verantwortung zunächst dem Osmanen-Weltvizepräsidenten Selcuk Can Sahin zugewiesen, in Zeugenaussagen dem Stuttgarter Präsidenten Levent Uzundal. Nun erklärt der in der Türkei weilende Kilinc: „Der Fall hat sich anders abgespielt. Es war mein Plan, Sakarya zu bestrafen.“ Das ganze sei eine „spontane Sache“ gewesen, der Schuss ins Bein sei nicht geplant gewesen.

Weder der Stuttgarter Osmanenchef noch der Vizechef der Gesamtorganisation habe davon gewusst oder es genehmigt. „Nur ich und meine Brüder wussten davon“, sagt Kilinc. Der Abtrünnige Sakarya sei auch nicht, wie er es darstelle, mit Schlafmittel betäubt und gefangen gehalten worden: „Er ist nach vier Tagen freiwillig gegangen und hat eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hat.“ Man habe ihn auch nicht ausgeraubt oder Laptop oder Handy gestohlen, betont Kilinc. Der Schlag mit der Zange gegen die Zähne sei auch nicht zu Beginn der Tat erfolgt, sondern gegen Ende. Er habe Videoaufnahmen, die seine Version beweisen könnten.

Unterschiedliche Aussagen zur Schuldfrage

Das Opfer Celal Sakarya hat schon vor Gericht betont: „Es waren Uzundal und Kilinc zusammen.“ Sie hätten ihn gewaltsam festgehalten, er sei nicht freiwillig in der Herrenberger Wohnung geblieben, sondern schwer verletzt worden. Das könne er mit Fotos belegen. Dass er gegenüber der Polizei andere Versionen der Tat erzählt hat, erklärt er damit, dass er „seine Brüder“ der osmanischen Führungsriege habe schützen wollen.

Sakarya macht – wie schon vor Gericht – den Beamten des Landeskriminalamtes schwere Vorwürfe: „Sie haben mir Geld, eine neue Identität und neue Dokumente angeboten, wenn ich Sahin und Bagci belaste.“ Das sei in Pausen während der Vernehmung geschehen.

Geld für Aussagen bei der Polizei?

Der Staatsanwalt Michael Wahl zitierte im Prozess dazu einen Vermerk eines baden-württembergischen Kriminalbeamten, wonach dem Gießener Osmanen-Chef in Aussicht gestellt worden sei, als Vertrauensperson für die Polizei zu arbeiten. Für Hinweise zu einem Drogentransport gebe es eine Belohnung. Auch Sakarya entlastet jedenfalls Sahin und Bagci. Sie hätten ihm „nie eine Drohung geschickt“, beteuert er.

Mit den verschiedenen Wortmeldungen wird offenbar versucht, Einfluss auf den laufenden Prozess vor dem Stuttgarter Landgericht zu nehmen, in dem es zurzeit um die Verantwortung für die Herrenberger Strafaktion geht. Dabei zeichnet sich schon länger ab, dass die obersten Anführer Mehmet Bagci und Selcuk Sahin entlastet werden und andere Osmanen-Mitglieder belastet werden sollen.

Offenbar gibt es dazu verschiedene Ansätze und Ansichten sowohl in der Gruppe als auch bei den Verteidigern. Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass der Weltpräsident Bagci ausgerechnet jetzt vor Gericht seine Geschichte erzählt – und den Eindruck eines weitgehend bürgerlichen Lebens erwecken will.

Weltpräsident Bagci erzählt von seinem Leben

Der Gründer des selbst ernannten Boxclubs, der von Frankfurt ausgehend seit 2015 bis zu 400 Mitglieder bundesweit rekrutiert hat und als Fußtruppe des türkischen Regierungschefs Erdogan in Deutschland gilt, könnte fast als vorbildlich integrierter Deutschtürke durchgehen – wäre da nicht das beachtliche Vorstrafenregister und die Anklageschrift. Seit mehr als 20 Jahren hat er einen deutschen Pass. Geboren ist er in einem kleinen Dorf in der Türkei als siebtes von acht Geschwistern, 1968 war sein Vater nach Deutschland genommen, 1981 holte dieser seine Kinder nach Kassel nach. „Mit ihm habe ich mich nicht gut verstanden“, erzählt der 46-jährige Bagci, der bis zu seiner Verhaftung im hessischen Dietzenbach lebte und drei Kinder von zwei Frauen hat.

Er hat als Schichtführer in einer Fabrik im gleichen Ort gearbeitet. Nach dem frühen Tod der Mutter brach er die Ausbildung zum Maschinenschlosser ab – und blieb dennoch bei seiner Ausbildungsfirma, um dort zu arbeiten. „Ich wollte mein eigenes Geld verdienen, um selbstständig zu sein“, erzählt er.

25 Jahre als Türsteher: „Da hat man Feinde“

Besonders spannend sind seine nebenberuflichen Beschäftigungen: Bagci war Kickboxer und als solcher sogar in der deutschen Nationalmannschaft. Zudem hat er 25 Jahre als Türsteher in Discotheken gearbeitet – in diesem Milieu ist er auch zu seinen Vorstrafen gekommen. Mal wurde ein Kontrahent, der auf ihn geschossen hatte, stundenlang auf einem Stuhl unter Bagcis Aufsicht malträtiert, mal ging es um Schlägereien. „In der Branche hat man viele Feinde“, erzählt der Osmanen-Präsident. Mit der Geburt seines zweiten Sohnes 2012 gab er den Nebenjob auf, seit einem schweren Autounfall 1997 konnte er auch nicht mehr Kickboxen. Auf sein neues Hobby, den 2015 als angebliches Hilfsprojekt für Straßenkinder ins Leben gerufenen Boxclub Osmanen Germania BC, ging er vor Gericht allerdings nicht ein.

Gericht muss neue Aussagen bewerten

Bagci zeichnet erwartungsgemäß ein positives Bild von sich als treusorgender Familienvater. „Von meiner ersten Frau habe ich mich getrennt, weil ich zu deutsch und sie zu türkisch war“, sagt er etwa. Und betont: „Ich habe noch nie im Leben Drogen und Alkohol genommen.“ Nur mit dem Rauchen habe er angefangen – aber erst vor wenigen Wochen in der Haftanstalt.

Wie die deutsche Justiz die jüngsten Aussagen einordnen, bleibt im Moment offen. Kein Kommentar, heißt es von Seiten der Staatsanwaltschaft zu der Frage, ob der Boxclub dadurch eine neue Verteidigungsstrategie fährt. Wegen des laufenden Verfahrens – und weil sich nach Angaben des Staatsanwaltschafts-Sprechers Sprecher Reiner Römhild – Kilinc noch nicht gemeldet habe. Er will dies nach eigenen Angaben am Montag tun.