In seinem Roman „Große Freiheit“ malt Rocko Schamoni ein buntes und spannendes Bild vom Leben der Hamburger Kiez-Legende Wolli Köhler.

Stuttgart - Wer sagt denn, dass Kunst immer nur erhaben und ästhetisch einwandfrei schön sein muss? Der in vielen Disziplinen beschlagene Künstler Tobias Albrecht, besser bekannt als Pop-Gesamtkunstwerk Rocko Schamoni, hat spätestens 2012 bewiesen, dass gerade das Obszöne, das Hässliche, der Abfall eine höhere Botschaft transportieren kann. „Scheiße by Schamoni“ ist eine im Internet zu beziehende, satirische Schmuckkollektion, „nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein politisches Statement“, wie der Entertainer versicherte. Doch der kann nicht nur Gold in Exkrement verwandeln. Schamoni macht Musik und als Mitglied von Studio Braun deftige Satire. Er schreibt Literatur, und das gar nicht schlecht. Sein autobiografisches Werk „Dorfpunks“ über die Jugend in der schleswig-holsteinischen Pampa der frühen Achtzigern machte Furore.

 

Marxist, Literat und Bordellboss

Mit dem Kiez-Reportage-Roman „Große Freiheit“ hat Rocko Schamoni seinen neuesten Wurf gelandet: eine Würdigung der St.-Pauli-Größe Wolli Köhler, einem Humanisten, Marxisten, Literaturliebhaber und Bordellboss, mit dem Schamoni bis zu dessen Tod 2017 eine Freundschaft verband. Es wäre verkehrt und viel zu einfach, aus Schamonis Interesse am extravaganten, viele Widersprüche vereinenden Lebensweg des Wolli Köhler abzuleiten, er wolle die Biografie bloß zur Volksbelustigung ausschlachten oder ein bürgerliches Lesepublikum damit vor den Kopf stoßen.

„Große Freiheit“ ist ein spannender, saftiger Entwicklungsroman, der die Karriere des Wolli Köhler ab den frühen 1950-er Jahren bis zur Mitte der Sechziger nachzeichnet und zugleich ein zeitgeschichtliches Sittenbild mitliefert.

Man begegnet Wolfgang als einfachem Jungen aus dem sächsischen Waldheim, der aus spießbürgerlichem Elternhaus und trüber Schlosserlehre ausbüxt und auf Trebe geht. Die Sprache ist karg und sachlich; Schamoni handelt Wollis Erfahrungen im Uran-Bergbau der Sowjets, als Laufbursche des Secret Service und als Püttmann im Ruhrgebiet in schnell ratternden Präsenssätzen ab. Das erste Mal steigt der Text auf die Bremse, als Wolli bei einem Zirkus anheuert. Da wird klar, dass der in Liebesdingen noch Unerfahrene einen Schlag bei Frauen hat, der ihm zunächst Schwierigkeiten, später interessante Positionen verschaffen wird.

Bunt ausgemalter Sex

Fast unmerklich rutscht Wolli unterm Blick des nüchternen Erzählers in ein problematisches Milieu und landet schließlich in Hamburg auf Sankt Liederlich, wie Insider das berüchtigte Amüsierviertel St. Pauli liebevoll nennen.

Hier trifft Wolli auf Exis – existenzialistisch eingestellte Intellektuelle, auf Dealer und Konsumenten. Er macht Erfahrungen als Obdachloser im berüchtigten Nachtasyl Pik As, bandelt mit einer Prostituierten an, deren Loddel, also Zuhälter er wird. An Wollis Seite erlebt man die ersten Auftritte der Beatles im Kaiserkeller mit einem erotoman veranlagten John Lennon, der deutsche Fans als Nazis beschimpft und Frauen auf der Clubtoilette nimmt. In der Bar Palette sitzt der Dichter Hubert Fichte und zeichnet die Gespräche seiner Zeitgenossen auf.

In „Große Freiheit“ geht es nicht allein um einen zügellosen, antibürgerlichen Lebensstil mit Drogen, Alkohol, Gewalt und von Schamoni immer bunter ausgemaltem Sex. Wolli, der Freude an großer Literatur hat und selbst gern ein Künstler wäre, steht für all die jungen Leute in der stickigen Nachkriegs-BRD, die noch vor 1968 eine Freiheit erproben, wie sie von Adenauer, dem Prediger Pater Leppich oder dem auf St. Pauli berüchtigten Amtmann Falck gedeckelt wird.

Dem kritischen Leser bietet Protagonist Wolli nicht alle Vorzüge eines lupenreinen Helden. Dessen Zweifel, sich zu tief in den moralischen Morast von St. Pauli einsinken zu lassen, vermittelt der Autor aber einigermaßen glaubhaft. Doch am entscheidenden Wendepunkt, als sich Wolli dazu entschließt, in das Projekt eines neuartigen Großbordells einzusteigen, endet die Erzählung. Dabei könnte es genau jetzt spannend werden: Wie sich der Traum von der großen, hemmungslosen Freiheit in den Albdruck der schamlosen Ausbeuterei verwandelt.

Rocko Schamoni: Große Freiheit. Roman. Hanserblau bei Carl Hanser. 286 Seiten, 20 Euro.