Wenn eine Ortsgruppe des Schwäbischen Albvereins nicht mehr weiter weiß, dann ist Roland Luther zur Stelle. Der Sonderbauftragte hat schon manche Auflösung in letzter Minute verhindert.

Stuttgart - Die Stimmung ist düster an jenem Freitagabend im Alten Bahnhöfle in Ensingen. Rund 20 Männer und Frauen haben sich im Vereinsheim versammelt, weil sie einer Einladung zur Außerordentlichen Mitgliederversammlung gefolgt sind. Die Auflösung der Ortsgruppe steht bevor, nach 115 Jahren droht die Geschichte des Schwäbischen Albvereins in Ensingen zu Ende zu gehen.

 

Trotz jahrelanger Bemühungen hat sich niemand gefunden, der bereit ist, für den Vorstand zu kandidieren. Derzeit steht ein Team an der Spitze, ein provisorischer Übergangsvorstand, der nun aber endgültig genug hat: „Es kam wohl nicht rüber, dass wir Nachfolger suchen“, sagt Stefan. Stefan ist der Sprecher der Ortsgruppe, einer, der sich immer wieder überreden ließ, noch ein wenig weiterzumachen. Jetzt aber sagt er: „Am 31. Dezember ist Schluss.“ Schluss mit dem alten Vorstand und wahrscheinlich mit der ganzen Ortsgruppe, die 1891 als eine der ersten des Schwäbischen Albvereins gegründet wurde.

Am Rande der resignierten Runde steht Roland Luther. Ein Mann von 69 Jahren, mit wachen Augen, Schnauzbart und einem verschmitzten Gesichtsausdruck. Er hört erst einmal zu. Hört die Klagen, „dass hier schon lange die Luft raus ist“. Dass bei Veranstaltungen Helferlisten ausliegen und sich keiner mehr einträgt. Dass auch an diesem Abend wieder mal nur 20 von 80 Mitgliedern gekommen sind, obwohl eine so weitreichende Entscheidung ansteht.

Wie weitreichend sie ist, das erklärt Roland Luther jetzt in aller Seelenruhe. Man hat ihn gerufen, als Berater eines heiklen Vorgangs, den so bisher noch keiner erlebt hat. Keiner außer Roland Luther, der seit acht Jahren darauf spezialisiert ist, Ortsgruppen, die nicht mehr weiter wissen, aus der Bredouille zu helfen. Luther ist Sonderbeauftragter des Präsidenten des Schwäbischen Albvereins. Eine Ein-Mann-Feuerwehr, die durchs Land zieht und größere und kleinere Brände löscht.

Es ist nicht leicht, neue Wege zu gehen

In Ensingen ist es fünf vor zwölf. Die 2500-Einwohner-Gemeinde gehört zu Vaihingen/Enz. Die meisten kennen sie, weil dort ein bekannter Mineralwasserhersteller seinen Sitz hat. Erst vor wenigen Jahren wurde das Alte Bahnhöfle als Vereinsheim des Schwäbische Albvereins eingeweiht, eine Investition in die Zukunft, die ausgerechnet hier nun zu Ende gehen soll. Das kann nicht wahr sein.

„Eine Auflösung ist kompliziert“, sagt Roland Luther, „viel komplizierter, als die meisten sich das vorstellen.“ Das Vermögen, das Vereinsheim, der Naturschutz, das Wegenetz, die Familien, die immer noch in großer Zahl am Vereinsleben teilnehmen. Was soll aus ihnen werden? Und was, wenn in zwei Jahren jemand der Meinung ist, dass man die Ortsgruppe nun doch vielleicht wiederbeleben könnte: „Dann funktioniert das meistens nicht mehr.“

Die Ensinger hören Roland Luther zu, sagen manchmal „Ja, Ja“ und dass man schon alles probiert habe. Wirklich alles? Luther holt weit aus. Spricht von Fusion und Kooperation, von Ortsgruppen in der Nachbarschaft, die vielleicht froh wären, wenn sie Verstärkung bekämen. „Habt ihr mit denen schon Kontakt aufgenommen?“

Sie haben nicht, weil sie sie gar nicht kennen. Oder weil sie sich nicht vorstellen können, dass es mit denen funktioniert. Es ist nicht so einfach, neue Wege zu gehen. Zuzugeben, dass man es allein nicht mehr schafft. Hilfe in Anspruch zu nehmen, auf eine Eigenständigkeit zu verzichten, die mehr als hundert Jahre Bestand hatte.

Gegen 20.45 Uhr wagt Roland Luther eine Probeabstimmung. „Wer kann sich eine Fusion vorstellen?“ Die Arme gehen zögerlich nach oben. Acht sind dafür und fünf dagegen, der Rest enthält sich. Das ist schon weit besser als am Anfang. Was nun folgt, hat etwas von „Die zwölf Geschworenen“. Der alte Filmklassiker mit Henry Fonda, bei dem mit jeder Probeabstimmung das Urteil ein wenig mehr ins Wanken gerät. Jetzt gibt Stefan zu bedenken, dass man ja auch bei einer Fusion Leute braucht, die mitarbeiten „und die die Gespräche führen“. „Aber könnten Sie das nicht sein?“, fragt Roland Luther. „Nur für die Gespräche.“ Danach beginnt eine rege Diskussion darüber, wer nun solche Verhandlungen führen könnte. Und zu welchem Zweck. Jetzt schlägt Christels Stunde. Sie ist die Frau, die in der Region Stromberg die Fäden in der Hand hält. Sie war es, die Roland Luther mit ins Boot geholt hat, sie wird es sein, die eine Kooperation vor Ort über die Bühne bringt.

Wieder ein aufregender Abend

„Wer hat persönlichen Kontakt zu einer anderen Ortsgruppe?“, fragt sie in die Runde. Zaghaft gehen die Hände nach oben, und ja, nun könnte sich auch Stefan vorstellen, mal einen Vorstoß zu wagen, „wenn andere dabei helfen“. Rudi nickt, er ist solch ein anderer, ein altes Vereinsmitglied, das selbst mehrfach im Vorstand war. Auch er würde bereit sein zu helfen.

Um 21.30 Uhr macht Roland Luther noch einmal eine Abstimmung. Diesmal ist es nicht mehr zur Probe. Die Hände der Versammelten gehen hoch, der Beschluss ist einstimmig. Alle wollen es nun wenigstens versuchen, einen Kooperationspartner zu finden. Die Auflösung ist erst einmal vom Tisch an diesem Abend.

Gegen 22.30 Uhr macht sich Roland Luther gut gelaunt auf den Rückweg zu seinem Wohnort nach Waiblingen. Es war mal wieder ein Abend voller Herausforderungen. Und ein ganz typischer obendrein: Es findet sich kein Vorstand mehr, weil die, die wollen, nicht mehr können und die, die können, nicht wollen. Vorbei die Zeiten, als man sich wie selbstverständlich im Vereinsehrenamt engagiert hat.

Da geht es dem Schwäbischen Albverein nicht anders als anderen Vereinen. Mit 100 000 Mitgliedern ist er noch immer der größte Wanderverein in Europa. Aber es waren auch schon mal 120 000 Mitglieder, jährlich geht die Zahl derzeit um etwa 1000 zurück. 580 Ortsgruppen zählt er aktuell, nicht wenige stehen vor ähnlichen Problemen wie die Wanderer von Ensingen.

Versierter Kommunikationsprofi

Als Roland Luther Sonderbeauftragter wurde, ging es eigentlich darum, dass sich jemand um Angehörige verstorbener Mitglieder kümmert, denn der Präsident kann in einem so großen Verein einfach nicht überall sein. Doch bald wurde klar, dass die eigentliche Aufgabe woanders liegt: Der Strukturwandel zwingt viele Ortsgruppen, über einen Zusammenschluss mit anderen oder über eine Auflösung nachzudenken. Es gibt zu wenig Nachwuchs. Das wurde zu Luthers Thema.

Keiner war dafür geeigneter. Luther kennt den Schwäbischen Albverein in- und auswendig: seit 52 Jahren Mitglied, ehemaliger Familien- und Jugendwart, bis heute Gauvorsitzender im Rems-Murr-Bezirk. Nicht zuletzt ist er jedoch ein versierter Kommunikationsprofi. Jahrzehntelang hat er bei der EnBW Prozesse moderiert, Leute zusammengebracht, nach Lösungen in Konfliktsituationen gesucht. „Er kann auf Menschen zugehen“, sagt der Albvereinspräsident Hans-Ulrich Rauchfuß, der mit Luther seit 30 Jahren befreundet ist.

Rauchfuß lässt seinen Sonderbeauftragten im Wesentlichen machen. Eine Position jenseits aller Hierarchien und Formalitäten, die es so in keinem anderen Wanderverein gibt. Anruf genügt. Beziehungsweise eine kurze E-Mail. „Es ist ganz einfach“, sagt Luther, „ich kann Entscheidungen treffen und muss nicht jeden Schritt mit dem Präsidenten absprechen.“

Ein Problem weniger

Der nächste Schritt in Ensingen ist das Zusammentreffen mit den möglichen Kooperationspartnern: Vaihingen, Horrheim und Hohenhaslach. Am Ende bleibt dann Vaihingen übrig, der große Bruder in der großen Nachbarstadt, der man politisch ja ohnehin angehört.

Am 1. Januar 2017 wird die Zusammenarbeit beginnen. Kooperation statt Fusion. Wobei die Vaihinger die meisten Posten besetzen und auch die Geschäftsführung übernehmen werden. Eine realistische Lösung und eine ziemliche unkomplizierte obendrein, weil die alten Strukturen im Wesentlichen erhalten bleiben können.

Roland Luther ist zufrieden. Wieder ein Problem weniger. Und wieder eine Auflösung, die verhindert werden konnte. Das gelingt nicht in jedem Fall. Manchmal, wenn es gar nicht anders geht und alle Alternativen ausgereizt sind, „dann muss man auch mal etwas geordnet zu Ende bringen“. In Wannweil war das so oder in Kirchentellinsfurt.

Roland Luther ist optimistisch, dass sein Schwäbischer Albverein eine gute Zukunft hat. Wandern liegt im Trend und die Zahl der Teilnehmer bei vielen Aktionen ist ermutigend. „Es wird sich einpendeln“, sagt er, „und es wird für alles eine Lösung geben.“ Die Kooperationen und Fusionen, die er einfädelt, sind ein wichtiger Teil davon. „Stellen Sie sich doch einmal vor, wie stark Sie wieder sind, wenn Sie zusammenarbeiten“, hatte er an die Ensinger appelliert. 2017 können sie nun an der Seite der Vaihinger diese Stärke beweisen und neue Wanderwege beschreiten.