Im Roman-Debüt des Erfolgsdramatikers Roland Schimmelpfennig ist der Wolf los. Aber hält das Buch, was Schimmelpfennigs Stücke versprechen?

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wie würde wohl ein Roman des Dramatikers Roland Schimmelpfennig aussehen? Er wäre mit Sicherheit sauber konstruiert, würde verschiedene isolierte Schicksalsfäden miteinander verknüpfen und die Fülle aktueller Themen an einem bestimmten Ort und einem sprechenden Detail zusammenziehen. In seinem 2001 in Stuttgart uraufgeführten Erfolgsstück „Die arabische Nacht“ war es eine Hochhaussiedlung, in der die Wasserversorgung zusammengebrochen ist, wodurch jene, die sonst aneinander vorbei leben, miteinander vergesellschaftet wurden. Im 2009 entstandenen „Goldenen Drachen“ sammeln sich die Schattenexistenzen der globalisierten Welt in einem asiatischen Restaurant irgendwo in Deutschland, um sich mit Thai-Chicken und scharfen Bohnen für ihr von Migration, Menschenhandel, Liebesleid geprägtes Los zu stärken.

 

Man kann die ganze Welt aus einer Saubohne herauslesen, sagen Zen-Buddhisten. Wenn dies stimmt, ist Roland Schimmelpfennig der Zen-Buddhist unter den deutschen Theaterautoren. Seine meditative Versenkung in die Dinge lässt das Dasein in seiner ganzen Fülle in schneidend klarem Licht aufscheinen, nach Art der alten Meister: ohne Lehre, ohne Geheimnis, ohne Antworten. Für seine Stücke wurde der meistgespielte deutsche Gegenwartsdramatiker mit Preisen überhäuft. Sein erster Roman, der zwar einen epischen Titel trägt, ansonsten aber genau der aus seinen Stücken abgeleiteten Erwartung entspricht, hat es auf Anhieb immerhin auf die Shortlist des Leipziger Buchpreises geschafft.

Die Dinge nehmen mit der Bestie ihren Lauf

Ort des Geschehens ist Berlin und Umgebung. Was die Fülle der in kleine Handlungssequenzen ineinander geschnittenen Schicksale zusammenhält, ist die Begegnung mit einem streunenden Wolf, der sich von der märkischen Peripherie ins Zentrum vorarbeitet. „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“, so der Titel, verursacht das streunende Tier als erstes eine Massenkarambolage auf der Autobahn, initiales Ereignis einer Erschütterung, die sich in die verschiedensten Bahnen der sozialen und emotionalen Infrastruktur der Gesellschaft fortsetzen wird.

Einem polnischen Schwarzarbeiter läuft er über den Weg, 80 Kilometer vor der Hauptstadt, er schießt von ihm ein Foto, das durch die Presse geht. Und so nehmen die Dinge samt der Bestie ihren Lauf. In seiner bewährten dezentralen Dramaturgie arbeitet sich Schimmelpfennig in das kalte Herz der Metropole heran, Short cuts aus Berlin.

Mit dem Wolf unterwegs sind zwei jugendliche Ausreißer, ihre aus unterschiedlichen Gründen versagenden Eltern, eine türkische Zeitungsvolontärin auf der Jagd nach ihrer ersten großen Geschichte, alte Hippies, junge Hipster, Kreative, Künstler, Zyniker, Fixer, Trinker, und die Freundin des Polen, die sich putzend über Wasser hält und sich nach einer durchtanzten Nacht von einem der vielen Männer schwängern ließ. Das ist virtuos ineinander verschachtelt. Jede der flüchtig gestreiften Figuren trägt einen Aspekt aktueller Großstadtmiseren herein. Die Liste der Themen ist so lang wie die der Personen.

Kaleidoskop aktueller Miseren

Der Pole entkernt einen Altbau, um Platz für teure Luxuswohnungen zu schaffen und öffnet mit jeder eingerissenen Wand den Blick für die Opfer der Gentrifizierung. Am versoffenen, arbeitslosen Vater werden ostdeutsche Strukturprobleme exemplifiziert, der Ego-Trip der Künstler-Mutter führt auf die soziale und ökonomische Schattenseite der bunten kreativen Szene, während das kollabierende Liebesleben der Putzfrau die entwürdigenden Umstände der Arbeitsmigration illustriert. Auf 250 luftigen Seiten bringt Schimmelpfennig einen Querschnitt dessen unter, was an relevanten Stoffen auf der Straße liegt, die sein Wolf passiert. Verpackungstechnisch ist das eine beachtliche Leistung.

Doch es ist eine Welt im Saubohnen-Format. Und so leicht sich dieser Roman wegschlabbern lässt, liegt er doch schal im Magen. Was ein wenig an den Wolf im Märchen erinnert, in dessen Leib nach der Mahlzeit statt Menschen nur Wackersteine durcheinanderrollen. Schimmelpfennig, der mit dem Wolf in der Stadt an das Raubtier in uns allen erinnert, gibt seine Gestalten an das wohlkalkulierte ästhetische Arrangement preis. Sie bleiben blasse Spielfiguren im Masterplan des Autors, was auch an ihrer dürftigen sprachlichen Einkleidung liegt. Egal wo man das Buch aufschlägt, finden sich Rumpfpassagen dieser Art: „Die Kneipe war leer. Draußen wurde es langsam hell. Das Mädchen saß,“ hoppla ein Komma, „ohne sich zu bewegen, da. Der Junge schlief.“

Im Design würde diese Reduktion durchgehen, je nach Regisseur auch auf der Bühne. Doch als Roman bleibt zuviel auf der Strecke. Und so bleibt dieser gezähmte Gruß aus der Wildnis am Ende ein schickes Gegenwarts-Kaleidoskop, dessen geschliffene Partikel und ästhetisch glatte Kanten selbst von der eisigen Kälte zeugen, deren Schauspiel sie entfalten.