Der marokkanische Autor und Filmemacher Abdellah Taïa ist schwul. Der 40-Jährige bricht mit seinem Bekenntnis zur Homosexualität ein Tabu in der arabischen Welt. Unser Autor Rolf Spinnler ist dem jungen Mann begegnet.

Stuttgart - Natürlich wird man versuchen, uns zu sagen: Wartet, alles zu seiner Zeit. Wir werden antworten: Nein. Wir haben zu lange warten müssen. Was sollen wir jetzt noch abwarten? Und: Warum überhaupt warten?“ Mit dem arabischen Frühling hat sich eine neue Generation in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens zu Wort gemeldet, die der alten Eliten und ihrer Repräsentanten überdrüssig ist. Die Angehörigen dieser Generation sind jung, gut ausgebildet, sprechen Fremdsprachen und sind in der Lage, sich mit Hilfe der neuen Medien politisch zu organisieren. Der Autor, von dem die eingangs zitierten Zeilen stammen, gehört zwar nicht ganz dieser Altersgruppe an, er ist bereits vierzig Jahre alt, aber er solidarisiert sich in seinen öffentlichen Stellungnahmen mit den neuen sozialen Bewegungen der arabischen Länder.

 

Abdellah Taïa wurde 1973 in Salé nahe der marokkanischen Hauptstadt Rabat geboren, als zweitjüngstes Kind einer kinderreichen Familie, zu der noch zwei Brüder und sechs Schwestern gehörten. Seine Mutter war Analphabetin, der Vater arbeitete als Hausmeister in der Stadtbibliothek, Geld war wenig vorhanden. Es war nicht vorauszusehen, dass daraus ein Schriftsteller hervorgehen würde, der uns mit einem Marokko jenseits der Touristenklischees bekannt zu machen verspricht.

Populäre Musik aus Ägypten

Der immer noch jungenhaft wirkende schlanke Mann mit dem kurz geschnittenen Haar und dem Siebentagebart nippt an seinem Tee in einem Café an der Place Léon Blum im elften Pariser Arrondissement und erzählt, wie er zum Schreiben gekommen ist. Am Anfang war das Kino, waren die Filme, die Seifenopern und die populäre Musik aus Ägypten, die mit Hilfe von Radio und Fernsehen in sämtliche arabische Ländern ausgestrahlt werden und so auch den jungen Abdellah in seinen bescheidenen Lebensverhältnissen in ihren Bann zogen.

Er habe als Kind Filmregisseur werden wollen, aber bei seiner Herkunft sei an ein Studium an einer Filmhochschule nicht zu denken gewesen. Wie jeder in Marokko, sofern er überhaupt eine Schule besucht, hatte Taïa dort etwas Französisch gelernt; daher entschied er nach dem Baccalauréat, sich an der Universität von Rabat für französische Literatur einzuschreiben - in der Hoffnung, auf diesem Weg einmal nach Paris zu kommen, in die Stadt, die für jeden Marokkaner der Inbegriff der großen Welt ist. Gleichzeitig war diese Option fürs Französische aber auch ein Verrat an der eigenen Herkunft. Denn es ist die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht, die von den marokkanischen Eliten benutzt wird, um sich von der Masse der ärmeren Bevölkerung abzugrenzen.

Das Leben ist schlagartig verändert

Während seines Studiums merkte Taïa, wie dürftig sein Französisch eigentlich war; deshalb begann er, ein Tagebuch zu führen, um seine Ausdrucksfähigkeit zu verbessern. So wurde er wider Willen zum französischen Schriftsteller und setzte damit eine Dialektik in Gang, die er so beschreibt: „Ich schreibe auf Französisch, aber ich denke auf Arabisch“. Die List dieses Schreibens besteht darin, dass er in der von der marokkanischen Elite benutzten fremden Sprache jene Welt beschreibt, die diese Elite nicht wahrhaben will: jenes andere Marokko jenseits der offiziellen Hochglanzbroschüren, das in Taïa seinen Chronisten gefunden hat. Es ist ein Marokko, in dem Armut und Machismo herrschen, aber auch eine poetische Sinnlichkeit das Leben prägt. Dank einem Stipendium kam Taïa 1998 für ein Jahr an die Universität von Genf, 1999 wagte er den Sprung an die Pariser Sorbonne. Im Jahr 2000 veröffentlichte er in Frankreich, wo er seit vierzehn Jahren lebt, mit „Mon Maroc“ seine erste Sammlung von Kurzgeschichten, 2005 folgte der Erzählband „Le rouge du tarbouche“ und 2006 der autobiografische Bildungsroman „L’armée du salut“, nun beim renommierten Verlag Seuil.

Dann geschah etwas, das Taïas Leben schlagartig verändern sollte. In einem Interview mit dem regierungskritischen marokkanischen Politikmagazins „Telquel“ im Jahr 2006 wollte die Journalistin auch auf Taïas Homosexualität zu sprechen kommen, die für jeden Leser mit offenen Augen aus seinen Texten ersichtlich war. Vor die Wahl gestellt, dem Thema auszuweichen oder sich zu outen, entschied er sich für die zweite Option. Damit war Taïa der erste schwule arabische Schriftsteller, der sich öffentlich zu seiner sexuellen Neigung bekannte. Dieses Coming-out löste ein kleines Erdbeben in der marokkanischen Öffentlichkeit und bestürzte Reaktionen in Taïas Familie aus. Denn Homosexualität ist in der arabischen Welt immer noch ein Tabu, homosexuelle Handlungen sind in den meisten Ländern strafbar.

Traum vom Kino

Taïa hört es nicht gern, dass er in den Augen der arabischen schwulen Community ein Held ist. Nein, wehrt er ab, er lebe ja im halbwegs komfortablen Paris; die wahren Helden seien die Homosexuellen in Marokko, die das schwule Internet-Magazin „Aswat“ gegründet hätten. Die Homosexuellenbewegung sei Teil des arabischen Frühlings, meint er und verweist etwa auf die libanesische Independent Band Mashrou‘ Leila, deren Sänger Hamed Sinno sich als schwul geoutet hat. Den Traum vom Kino hat Taïa freilich nicht aufgegeben, und als er 2008 das Angebot erhielt, „L‘armée du salut“ zu verfilmen, griff er zu.

Fünf lange Jahre hat Abdeallah Taïa an dem Projekt gearbeitet; gedreht wurde mit der renommierten Kamerafrau Agnès Godard, in Casablanca und Genf. Der Film hatte seine Premiere im vergangenen Herbst in Venedig und ist inzwischen schon auf zwei Festivals, in Genf letzten November und jetzt im Januar im französischen Angers, mit Preisen bedacht worden; im Mai 2014 wird er in Frankreich dann schließlich in die Kinos kommen. Taïa hofft sehr, dass der Film trotz des schwulen Sujets auch in Marokko gezeigt wird; die renommierten arabischen Festivals in Marrakesch und Dubai haben ihn zwar abgelehnt, aber er war im Februar beim Filmfestival von Tanger zu sehen – ein erster Erfolg im Kampf mit der Zensur.

Mut zu Veränderungen

Deutsch: Von Abdellah Taïa sind bisher zwei Bücher auf Deutsch erschienen: 2012 der Roman „Der Tag des Königs“ (übersetzt von Andreas Riehle, Suhrkamp Verlag, 180 Seiten, 19,95 Euro) und jüngst die von ihm herausgegebene Textsammlung „Briefe an einen jungen Marokkaner“ (übersetzt von einem Autorenkollektiv , Passagen Verlag, 208 Seiten, 25,90 Euro), in der im europäischen Exil lebende marokkanische Autoren die junge Generation des Landes zu Veränderungen ermutigen.

Englisch: Die Romane „L’armée du salut“ und „Une mélancolie arabe“ sind in Englisch beim Verlag Semiotexte greifbar.