Der streitbare Christdemokrat Rolf Thieringer feiert an Weihnachten seinen 85. Geburtstag. Porträt des ehemaligen Stuttgarter Bürgermeisters.

Stuttgart - Es ist in diesen Zeiten kein Vergnügen, ein Christdemokrat zu sein, schon gar nicht in der Landeshauptstadt. „Da gehört Courage dazu“, sagt Rolf Thieringer. „Ich leide sehr nach fast sechzig Jahren Mitgliedschaft in der CDU. Diese Niederlagen tun mir weh.“ Als da wären: die verlorene Kommunalwahl von 2009, die verlorene Landtagswahl von 2011, die Affäre um Stefan Mappus, vor allem aber die verlorene OB-Wahl am 21. Oktober.

 

Knapp dreißig Jahre seines Berufslebens verbrachte Rolf Thieringer als Bürgermeister für Soziales und Gesundheit, später sogar als Erster Bürgermeister auf der Chefetage des Stuttgarter Rathauses. Stets war die CDU die prägende Partei in dieser Stadt. Warum hat sich das geändert? „Es liegt an de Leut’“, sagt Thieringer. „Ich glaube an die Kraft von Persönlichkeiten.“

Was er damit meint: den hiesigen Christdemokraten mangelt es heutzutage an profilierten Köpfen, an mutigen Querdenkern, an glaubwürdigen Charakteren, an politischen Talenten, die nicht herumschwadronieren, die Lebensklugheit besitzen, den Menschen reinen Wein einschenken. „Ich habe unseren Kandidaten Sebastian Turner unterstützt“, erzählt Thieringer, weil der ein Klassenkamerad meines Sohnes Stefan war.“ Dazu stehe er auch im Nachhinein. Offen und ehrlich, wie es immer seine Art war, fügt er hinzu: „Unser OB-Kandidat ist im Wahlkampf entmystifiziert worden.“

Flakhelfer in Zuffenhausen

Rolf Thieringer, der am zweiten Weihnachtstag seinen 85. Geburtstag feiert, sagt über sich: „Ich bin ein wandelndes Stück Zeitgeschichte, habe in meinem langen Leben historische Höhen und Tiefen erlebt.“ Thieringer stammt aus dem Flecken Höchstberg bei Heilbronn, unweit der Grenze zwischen Baden und Württemberg, „aber ich bin mit meinen Eltern schon 1928 nach Stuttgart gekommen, hier aufgewachsen – ich fühle mich als Stuttgarter“. Als Jugendlicher hat er den Zweiten Weltkrieg erlebt und erlitten, war Flakhelfer auf einem Geschütz mitten in Zuffenhausen. Nach dem Zusammenbruch 1945 ging der junge Mann aufs renommierte Karlsgymnasium. Thieringer weist mit erhobenem Zeigefinger darauf hin, dass man damals „Karls-Oberschule“ sagte – die Betonung auf „Ober“. Eine bürgerliche Bildungsanstalt. Es folgte das Studium: Staatswissenschaft, Philosophie, Geschichte, Geografie; Thieringer nennt es „mein Studium generale“, erinnert sich, dass er „eigentlich Diplomat oder etwas im Sozialen werden wollte“.

Dann war da noch das Religiöse, sein Katholizismus, die Suche nach persönlicher Orientierung angesichts der Katastrophe der Nazizeit und des Krieges. Also entschied er sich nach dem Abitur in Stuttgart zunächst für die Jesuiten, für deren Kolleg in Pullach bei München. Das Dogmatische der Jesuiten passte indes so gar nicht zu seinem liberalen Geist. Schon nach anderthalb Jahren verließ er Pullach wieder, denn eine heitere Weisheit hatte ihm die Augen geöffnet: „Fürchte das Wildschwein von vorn, den Esel von hinten und die Frömmler von allen Seiten!“ Thieringer lacht, zitiert’s gleich noch einmal und ist froh, diese Entscheidung fürs Leben getroffen zu haben.

Also kam alles anders – wie so oft für die jungen Männer seiner Generation. An der Philosophischen Fakultät der Uni Tübingen riet man dem Doktoranden zu einer Arbeit über „Das Verhältnis der Gewerkschaften zu Staat und Parteien in der Weimarer Republik“. Die Gewerkschaft ließ damals diese Arbeit vielfach drucken; noch heute kann man sie im Antiquariat erwerben. Um über sein Thema zu recherchieren, ging der junge Academicus in den frühen Fünfzigern nach Bonn, mietete sich im kleinen Rhöndorf ein und hatte, morgens auf der Fähre über den Rhein, eine schicksalhafte Begegnung: „Auch Konrad Adenauer, der bekanntlich in Rhöndorf wohnte, musste mit seinem Dienst-Mercedes über den Fluss, um nach Bonn zu kommen. Da hab ich ihn angesprochen, was kein Problem war, denn Sicherheitsleute hatte der Bundeskanzler nicht.“ Thieringer trat in die CDU ein. „Der Alte“, wie man Adenauer nannte, hatte ihn beeindruckt.

Grand-Seigneur der Stuttgarter CDU

1954 wurde Thieringer in Tübingen promoviert, wurde in Stuttgart beim neuen Fremdenverkehrsverband des Landes angestellt. Der Tourismus steckte noch in den Anfängen. In den Jahren des Wiederaufbaus pendelte der aufstrebende Jungmanager Thieringer zwischen Stadt und Land, fand Kontakt zum populären Stuttgarter OB Arnulf Klett, der ihn 1963 aufs Rathaus kommen ließ: „Ich brauch einen persönlichen Referenten. Sie können das.“ Thieringer machte Einwände: „Ich bin katholisch und in der CDU.“ Der parteilose, evangelische Klett schnaufte einmal tief durch: „Ich nehm Sie trotzdem.“

1970 gelang der nächste Karrieresprung. Auf Kletts Vorschlag hin wählte der Gemeinderat Thieringer zum neuen Bürgermeister für Soziales und Gesundheit. Sein Vorgänger, der Christdemokrat Josef Matussek (übrigens der Vater des umtriebigen „Spiegel“-Reporters und Publizisten Matthias Matussek) war beim OB und dem Gemeinderat in Ungnade gefallen.

Der neue Beigeordnete ging sogleich mutig ans Werk: Thieringer legte sich mit den Chefärzten der städtischen Krankenhäuser an, die es völlig normal fanden, ihre mit Steuergeldern bezahlten Hospitäler auch für Privatpatienten zu nutzen und denen saftige Rechnungen zu stellen – ohne dafür einen Pfennig an die Kommune abzuführen,. „Wir hatten Chefärzte, die Millionen umsetzten“, sagt Thieringer, der für die Professoren und Doktoren zum Buhmann wurde. Keine leichte Zeit. Mit Hilfe des Rates setzte er sich durch, neue Verträge zwangen die „Halbgöttern in Weiß“ fortan dazu, ihre Einkünfte mit der Kommune zu teilen.

Kandidat für den OB-Posten

Als Arnulf Klett im August 1974 überraschend starb, brachen turbulente Monate an. Wer sollte sein Nachfolger werden? Innerhalb wie außerhalb der CDU deutete man auf Rolf Thieringer, der sich bereit erklärte zu kandidieren. Heute stellt er nüchtern fest: „Die haben mich damals ins Messer laufen lassen. Gerhard Mayer-Vorfelder, der CDU-Kreischef, und Hans Filbinger, der Ministerpräsident, hatten sich für Manfred Rommel entschieden, mir aber zunächst nichts davon gesagt.“ Als Filbinger ihn zum Verzicht drängen wollte, habe er abgelehnt. So kam es, wie es kommen musste: Hinter den verschlossenen Türen des Hotels Europe am Pragsattel votierte der CDU-Kreisvorstand mit 24 zu 18 Stimmen für den Kandidaten Rommel. Thieringers bitterste Niederlage.

Rommel wurde Oberbürgermeister, aber Thieringer lief nicht davon, obgleich die Partei ihm später OB-Kandidaturen in Heilbronn, Reutlingen und Friedrichshafen anbot. „Die ersten Jahre hatten wir ein gespanntes Verhältnis“, räumt der Unterlegene ein. Doch als er 1979 Erster Bürgermeister wurde, also Rommels offizieller Stellvertreter, wendete sich das Blatt: „Ich sah mich nicht als Aushilfskellner, aber ich war immer loyal gegenüber Manfred Rommel.“ Mehr noch: 1988, zum 60. Geburtstag des OB, veröffentlichte Thieringer das Büchlein „Klar gedacht und gut gesprochen!“, eine heitere Sammlung von Zitaten seines Dienstherrn. Beispiel: „Man sollte die großen Probleme immer dann lösen, wenn sie noch ganz klein sind.“

Seit zwanzig Jahren ist Rolf Thieringer nun außer Diensten, aber fast so aktiv wie eh und je. „Ich brauche einen strukturierten Tag“, sagt er und meint damit eine Fülle von Ehrenämtern: Mit Gleichgesinnten führt er die Stiftung Marienheim, ein Wohnheim für alleinstehende junge Frauen in der Innenstadt. Er engagiert sich in der Stiftung Geißstraße, entstanden aus dem Feuer im Haus Geißstraße 7, dem im März 1994 nach einem Brandanschlag sieben ausländische Bewohner zum Opfer fielen. Auch in der Paulinenhilfe, in der Hans-Rehn-Stiftung und in der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat Thieringer noch immer Sitz und Stimme. Der württembergische Schwimmverband erhob ihn zum Ehrenpräsidenten, das Große Bundesverdienstkreuz darf er sein Eigen nennen, auch die Otto-Hirsch-Medaille, die ihn als einen ausweist, der sich um die christlich-jüdische Zusammenarbeit verdient gemacht hat. Die Liste ließe sich verlängern.

Keine Ruhe im Ruhestand

Thieringer, der in den neunziger Jahren seine Frau nach schwerer Krankheit verlor, ist und bleibt unbeugsam: Schon vor vierzig Jahren legte er den Vorsitz beim Stuttgarter Kammerorchester spontan nieder, als er erfuhr, wie rüde der Dirigent Karl Münchinger mit manchen seiner Musiker umsprang. Mitte der Neunziger trat er als Präsident des Landessportverbandes und des Württembergischen Landessportbundes frustriert zurück, als ihm aus dem Badischen offene Feindschaft entgegenschlug, weil er die – bis heute nicht vollzogene – Fusion der drei selbstständigen Regionalverbände forderte. Auch den Kreisvorsitz des Roten Kreuzes gab er von einem Tag auf den anderen ab, weil er den Streit gegen die Malteser und die Johanniter um die Einsätze der Notarztwagen nicht mittragen mochte. Wenn es um seine Überzeugung geht, macht er keine Kompromisse.

Rolf Thieringer ist übrigens ein passionierter „Leuzeaner“, zieht im Mineralbad seine Bahnen, frei nach dem Motto: Keine Angst vor kaltem Wasser! Bis heute sagt er, was er denkt – letztes Beispiel: „Als ich noch Mitglied war im Rundfunkrat des SWR, da saß unser neu gewählter Oberbürgermeister Fritz Kuhn als Landtagsabgeordneter immer neben mir. Der ist ein kluger Kopf . Nur leider hat er keinen Humor.“