Die meisten Männer und Frauen glauben: Die Emanzipation ist eine weibliche Angelegenheit. Das ist falsch, sagen Experten. Auch Männer haben viel zu gewinnen.
Stuttgart - „Wann ist ein Mann ein Mann?“, fragte sich Herbert Grönemeyer in den Achtzigerjahren in seinem Lied „Männer“ und befand: „Männer haben es schwer, nehmen es leicht/ außen hart und innen ganz weich/ werden als Kind schon auf Mann geeicht“. Was schon damals nicht nur eine Bestandsaufnahme, sondern wohl eher eine Art Gesellschaftskritik Grönemeyers war, ist heute noch aktuell. Zumindest in Teilen.
„Wir sind noch lange nicht durch mit dem Thema“, sagt der Psychologe und Männerberater Björn Süfke. In seinem Buch „Männer – Was es heute heißt, ein Mann zu sein“ bescheinigt er dem traditionellen Konzept von Männlichkeit eine Krise. „Männer müssen sich emanzipieren, sowohl von den traditionellen als auch von den modernen Anforderungen“, sagt der 47-Jährige, der seit 20 Jahren in einer Männerberatungsstelle in Bielefeld arbeitet und Männern bei der Problembewältigung hilft – sei es bei der Identitätsfindung, in der Partnerschaft oder bei Depressionen und Angststörungen.
Ein gemeinsames Anliegen beider Geschlechter
Der Mann müsse heute einen Spagat zwischen der traditionellen Versorgerrolle und vermeintlich modernen Eigenschaften aushalten: „Neben den traditionellen Anforderungen wie Erfolg im Berufsleben soll er auch noch ein aktiver Vater, guter Liebhaber und ein empathischer Zuhörer sein“, sagt Süfke, selber Vater zweier Grundschulkinder. Ähnliches bemängeln auch Frauen an ihrer Familienrolle: Einerseits sollen sie fürsorgliche Mutter sein, zu Hause alles im Griff haben und dem Mann eine aufmerksame Ehefrau sein. Gleichzeitig sollen sie erfolgreich und zielstrebig im Beruf sein, unabhängig und selbstbestimmt.
Genau hier setzt Björn Süfke an: „Es ist weder ein reines Frauen- , noch ein reines Männerthema, sondern ein gemeinsames Anliegen, das Rollenverständnis einander anzugleichen.“ Es würde allerdings noch einige Jahre dauern, bis Frauen in Männerberufen und anders herum selbstverständlich seien. Genauso wie noch einiges an Überzeugungsarbeit und Selbstreflexion vor uns allen liege, damit eines Tages der junge Vater genauso selbstverständlich zu Hause beim Kind bleibt und anschließend in Teilzeit wieder einsteigt wie das momentan hauptsächlich Frauen tun. Unter den Erwerbstätigen mit Kindern sind 94 Prozent der Väter in Vollzeit beschäftigt, aber nur 34 Prozent der Mütter, ermittelte das Statistische Bundesamt 2018.
Junge Männer wissen nicht, woran sie sich orientieren sollen
Lange Zeit sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein reines Frauenthema gewesen. Da könnten Männer der Frauenbewegung sehr dankbar sein. Laut Süfke befinden wir uns in einer gesellschaftlichen Aufbruch- und Umbruchphase. „Im Moment bin ich vorsichtig optimistisch, dass das Thema Gleichberechtigung weiter Fahrt aufnimmt und zunehmend als geschlechterübergreifendes Anliegen angesehen wird.“ Die gute Nachricht sei, dass das Konstrukt der traditionellen Männlichkeit aufgebrochen werde. Das zeigt unter anderem der Zeitgeist mit dem Phänomen des metrosexuellen Mannes, also eines Heterosexuellen mit vermeintlich femininen, weichen Zügen, das seit ein paar Jahren die Runde macht.
Aus unserem Plusangebot: Mütter sind Managerinnen ohne Lohn
Das zeigt sich aber auch in anderen, weniger plakativen Facetten. Der Schweizer Psychologe Markus Theunert beobachtet, dass Männer zunehmend verunsichert sind und in eine konträre Rolle verfallen. „Die meisten Männer orientieren sich übermäßig an dem, was Frauen verlangen. Alles, was als politisch korrekt gilt“, sagte Markus Theunert in einem Interview mit der „Welt“. Er war der erste staatliche Männerbeauftragte im deutschsprachigen Raum.
Heute leitet Theunert das Schweizerische Institut für Männer und Geschlechterfragen. Vor allem junge Männer wüssten nicht mehr, woran sie sich orientieren sollen: „Sie fragen sich, ob die gängigen Männlichkeitsnormen ihnen schaden.“ Theunerts Prognose: „Nach den Frauen stehen gegenwärtig die Männer davor, sich zu emanzipieren, und zwar doppelt. Erstens gegenüber überholten Männlichkeitsnormen. Und zweitens gegenüber der gleichstellungspolitischen Definitionsmacht der Frauen.“
Das männliche Selbstverständnis gerät ins Wanken
Der Männerberater Richard Schneebauer beschreibt in seinem Buch „Männerherz – Was Männer bewegt“: „Heute erleben wir sich selbst suchende Männer, die nicht so recht wissen, wie sie denn sein wollen und sein sollen, nachdem die alten Herrscherbilder verstaubt sind und die#Me-too-Bewegung global aufschreit.“ Männer, die früher ein Selbstverständnis gehabt hätten, mit Frauen beinahe alles tun zu können, denen Frauen zur Zierde und Belustigung gedient, doch sicherlich keine Konkurrenten für ihre gesellschaftliche Position dargestellt hätten, würden heute nicht mehr toleriert – der Fall Harvey Weinstein ist ein prominentes Beispiel.
Und trotzdem würden sich Männer oft auf althergebrachte Muster zurückziehen, vor allem wenn es ans Eingemachte gehe. Richard Schneebauer erlebt oft Ablehnung, wenn er mit Männern über Schweigen und Gefühle reden will. „Ich weiß, was die von mir denken“, sagt er, „zu weich, zu gefühlig, irgendwie komisch, irgendwie schwul. Habe ich auch gedacht bei meinen ersten Seminaren.“ Schneebauer, seit 20 Jahren im Geschäft, stellte seine Männerseminare unter das Motto: „Männerabend. Warum Männer reden sollten. Und warum sie einen Mann zum Reden brauchen“. Erst wenn sie unbedingt müssen, erklärt Schneebauer in seinem Buch „Männerherz“, überwinden sich viele Männer, zu reden. Schweigen, Verwirrung, Unsicherheit haben laut Schneebauer denselben Grund: Der männliche Identitätskern ist zerrüttet.