Die Stadt hat einige Wahllokale verlagert – doch was praktische Gründe hat, ist nicht automatisch auch behindertengerecht.

S-Ost - Heinrich Radke ist aufgebracht: Beim Erhalt seiner Wahlbenachrichtigung hat er erfahren, dass „sein“ Wahllokal verlegt wurde und nun nicht mehr barrierefrei ist: „Überall liest man davon, dass Einrichtungen behindertengerecht sein sollen, aber für die Stadt selbst gilt das wohl nicht“, beschwert sich der Bewohner des Parkheims in Berg. Lange Zeit waren er und die anderen Bewohner des Pflegeheims im nahe gelegenen Paulinenstift wählen gegangen. Doch wegen der Pandemie lässt die Stadt keine Wahllokale in den Alten- und Pflegeeinrichtungen mehr zu, wie Pressesprecherin Jasmin Bühler erläutert. Allerdings gibt es auch noch einen weiteren Grund für die Verlagerung: „Die Briefwahl hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen und wurde auch durch die Corona-Pandemie noch verstärkt.

 

Weniger Urnen wegen Corona

Dadurch wurde die Anzahl der Urnenwahlbezirke von ehemals 350 auf nun 260 verringert. Zugleich wurde die Anzahl der Briefwahlbezirke von ursprünglich 106 auf ebenfalls 260 erhöht.“ Das wirft allerdings Fragen auf: Wenn mehr Bürger die Briefwahl nutzen, scheint das zu Lasten derer zu gehen, die selbst nur schwer eine Briefwahl für sich beantragen können. „Bei der Auswahl wurde insbesondere auf die ausreichende Größe, die Frischluftzufuhr sowie die Möglichkeiten der Steuerung des Personenverkehrs geachtet“, erklärt Bühler weiter. Alles coronabedingte Auflagen, ein behindertengerechter Zugang scheint zweitrangig zu sein. Heinrich Radke sagt jedenfalls: „In meinen Unterlagen stand gleich drin, dass das neue Wahllokal nicht barrierefrei ist.“

Stadt rät zur Briefwahl

Die Stadtverwaltung verweist auf die Möglichkeit zur Briefwahl, und darauf, dass man mit seinem Wahlschein auch jedes andere Wahllokal innerhalb des Wahlkreises aufsuchen kann. „Ich bin halbseitig gelähmt, so einfach geht das nicht“, sagt Radke beim Ortstermin am „Berger Plätzle“ und setzt hinzu: „Ich mache das hier ja nicht allein für mich, sondern auch für die anderen, die auf Rollstuhl oder Rollator angewiesen sind.“ Einige Meter weiter lackiert Alwin Haneberg gerade Biertisch-Garnituren und kommt nun dazu. Er ist Beisitzer im Vorstand des MGV Berg, vormals Männergesangverein Berg, dessen Vereinslokal das „Berger Plätzle“ ist. Wegen der Pandemie habe man es lange nicht oder nur stark eingeschränkt nutzen können, erzählt er. Jetzt seien alle froh, dass es wieder losgeht. Durch die Nähe zum Parkheim werde die Lokalität auch gerne von den Heimbewohnern und ihren Angehörigen für Feierlichkeiten genutzt: Gerade habe eine Dame ihren 101. Geburtstag hier gefeiert. Und der eine oder andere Senior sei sogar Stammgast.

Rampe soll helfen

Dass nun gerade die vier Treppenstufen am Eingang zum „Berger Plätzle“ ein so unüberwindliches Hindernis darstellen, macht ihn sichtlich betroffen: „Unsere Toiletten sind leider im Untergeschoss, das können wir nicht so schnell ändern. Aber am Eingang, da machen wir für die Wahl eine Rampe hin!“, sagt er entschlossen. Sofort geht er mit MGV-Vorständin Luisa Händle telefonieren, die zusagt, dass man tatsächlich für den Wahltag von der Stadt eine Rampe anfordern werde.

„Wissen Sie, ich war früher auch mal Koch, aber auf einem Schiff“, erzählt Radke zum Abschied. „Als Smutje?“ hakt Haneberg interessiert nach und setzt schlagfertig hinzu: „Dann kommen Sie mal vorbei und kochen ein Gulasch!“ Und so löst sich ein zunächst unüberwindbares Hindernis dank nachbarschaftlicher Solidarität in Wohlgefallen auf.