Rainald Goetz hat einen Zeitroman geschrieben, der Maßstäbe setzt. „Johann Holtrop“ schildert den Aufstieg und Fall eines Topmanagers.

Stuttart - Rainald Goetz gilt, spätestens seit seinem Rasiermesserangriff auf den Bachmannpreis, als der geniale Irre der deutschen Literatur. Mit Notizbuch und Kamera, Luhmanns Systemtheorie und hyperaktiver Geistesgegenwart gerüstet, zeichnet er alles manisch-panisch auf, was ihm auf den Geist geht, und spuckt es in wütenden Blogs und wilden Essays wie „Abfall für alle“ oder „Loslabern“ wieder aus. Sein erster Roman nach „Kontrolliert“ (1987) war daher mit großer Spannung erwartet worden; selbst die Übergabe der Rezensionsexemplare war ein Medienereignis. Das lange Warten hat sich gelohnt: „Johann Holtrop“ ist ein Zeit- und Gesellschaftsroman, der neue Maßstäbe für das Genre setzt.

 

Am Thema liegt es nicht. Aufstieg und Fall von Tycoons und Topmanagern sind oft genug beschrieben worden. Allerdings ist Johann Holtrop kein ehrbarer Kaufmann, sondern Vorstandsvorsitzender von Assperg, einem Medienkonzern mit Sitz in Krölpa an der Unstrut; man darf ruhig an Gütersloh und den ehemaligen Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff denken. Der „Entscheidungshysteriker“, Blender, Bluffer und Menschenfänger ist eine „hocheffiziente Präzisionsmaschine, die Führung auswirft“ und mit Vollgas, hypertrophem Ego und dröhnendem Charisma alles niederwalzt, was sich ihr in den Weg stellt. Holtrop steht für alles, was den Boom-Kapitalismus der Nullerjahre heute so unausstehlich macht: unersättliche Gier, Hohlheit, menschenverachtende Arroganz, verbrämt mit Marketingjargon und großmäuligen „Visionen“.

Volltrottel, Deppen, Nullen

Wer seinem Tempo, seiner Skrupellosigkeit und globalstrategischen Weitsicht nicht gewachsen ist, gehört für Holtrop zu den Arschlöchern, Volltrotteln, Deppen, Nullen und bürokratischen Kleingeistern. Kollegialität unter Führungskräften gründet auf wechselseitiger Verachtung; auch die Mitläufer sind „vielleicht verblendet, meist verblödet, immer aber irgendwie zu packen“. „Die strukturelle Kaputtheit des Systems erzeugte bei ihm vor allem den Überlegenheitsgedanken: Gut, dass ich weiß, dass alle so kaputt sind, denn dann kann ich davon profitieren.“

Erst die Finanzkrise bremst den „Psychopathen ohne Hitlerbärtchen“ unsanft aus. Die Geschäfte beginnen unrund zu laufen, der alte Firmenpatriarch und seine Frau Kate wenden sich von dem unberechenbaren Egomanen ab, die kaltgestellten Vorstandsmitglieder wittern Morgenluft. Holtrup, längst selber ein Wrack am Tropf von Psychopharmaka und Opfer seiner Verkäuferphrasen, fügt sich fast willenlos in sein Schicksal. Die Party ist vorbei, der Raver des Kapitals ausgebrannt. Eine 40-Millionen-Abfindung erleichtert ihm den Abgang in die Rehaklinik.

Grandioses Panorama der Gegenwart

Goetz‘ Roman mit dem doppeldeutigen Untertitel „Abriss der Gesellschaft“ ist die rasiermesserscharfe Analyse eines Systems, das nicht verbessert, beschönigt oder gerettet, sondern nur bis auf die psychischen Grundmauern abgerissen werden kann. Holtrop ist ein rational agierender Irrer, der im „Wahn totaler Gegenwart“ und abstrakter Geldvermehrung den Kontakt zur Realität verloren hat. Er weiß nicht, ob er sich gerade in Hongkong, New York oder Krölpa aufhält; von seinem Lieblingswein kennt er nur den Namen, nicht den Geschmack. Dass er eine Frau hat, erfährt man erst spät und auch nur beiläufig; ob er Gefühle hat, die über Verachtung, Kalkül und Egoismus hinausgehen, bleibt letztlich gleichgültig.

Alle Figuren, Opfer wie Täter, in Goetz‘ Diktion: Ober und Unter, sind gefangen in der Logik des Systems. Es gibt keine Unschuldigen; selbst die „kritische Öffentlichkeit“ in Gestalt von „Spiegel“-Journalisten oder Hofkünstlern wie Neo Rauch und André Heller ist korrupt. Nur der Erzähler kann die ganze intellektuelle und moralische Schäbigkeit Holtrops und seiner „subalternen Idioten“ ermessen. Das allerdings wirkt auf die Dauer doch ein wenig ermüdend und selbstgerecht.

Mehr als nur antikapitalistisches Loslabern

Goetz hält mit seiner Verachtung nicht hinterm Berg. Er spart nicht an aggressiven Werturteilen (und Wortungetümen wie Nulligkeitsmaximum, „organisatorischer Ungefährismus“ oder „inhaltistischer Karrierismus“), aber immer wieder verschlägt es ihm schier die Sprache. „Das Phantasma der totalen Herrschaft des KAPITALS über die Menschen“, heißt es schon auf der ersten Seite, ist „so falsch, so lächerlich, so blind gedacht, so infantil größenwahnsinnig wie, wie, wie –“.

Als Zeitgeistbeobachter konnte Goetz in seinen Pamphleten Hass und Wut, Zweifel und Verzweiflung, eine radikale, selbstzerstörerische Subjektivität einbringen. Im Roman ist ihm dieses Ventil weitgehend versperrt, und so entlädt er seinen energetischen Überdruck in ebenso hilflosen wie überflüssigen Kommentaren.

Hitzköpfige Sprachgewalt und analytischer Furor

Gleichwohl ist „Johann Holtrop“ mehr als nur antikapitalistisches Loslabern. Gestützt auf umfängliche Recherchen und exzessiven Medienkonsum, entwirft Goetz ein grandioses Panorama der deutschen Wirtschaft und ihrer Subsysteme Kultur, Politik und Medien. Neben realexistierenden Zeitgenossen wie Gerhard Schröder oder Peter Hartz treten kaum verhüllte Doppelgänger von Leo Kirch, Matthias Döpfner, Carsten Maschmeyer, Friede Springer und Liz Mohn auf. Goetz zeigt sie beim Smalltalk auf Vernissagen, beim gegenseitigen Belauern in Vorstandssitzungen, nachts auf der Autobahn oder im vertraulichen Gespräch mit ihrem Anlageberater. Er beobachtet ihre kleinen, bösen Spielchen und groß angelegten Intrigen, ihre Körpersprache und ihren Jargon, ihre Männerwitze, Drogen und „Complianceprobleme“ und zieht seine – nicht immer nachvollziehbaren, aber immer kühnen und klugen – Schlüsse.

Selbst wenn Konstruktion und Satzbau des Romans manchmal so verschachtelt und undurchsichtig wie das Assperg-Imperium sind: mit seiner hitzköpfigen Sprachgewalt, seinem kaltblütigen analytischen Furor und seinem spröden Witz hat die Totalabrissbirne Goetz sich eindrucksvoll in ein kaputtes Systems vergraben.