Olga Martynova fügt in ihrem neuen Roman die zersplitterte Welt zusammen – schöner, als sie je gewesen ist.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Es gibt nicht immer eine Geschichte zu erzählen. Manchmal sind die Dinge viel zu kompliziert. Dann muss man eben etwas anderes erzählen, etwas wofür es keinen Namen und Begriff gibt: so packend wie ein Roman, so verspielt wie ein Tagtraum, so klug wie eine Katze, so ernst wie der Tod und so zierlich wie ein Schlüsselbein. Warum Katzen klug sein sollen? Nun, weil sie in allen erdenklichen Gestalten durch den neuen Roman von Olga Martynova schleichen, rauchfarben, auf drei Beinen, unbestimmt fleckig, mit einem frisch verspeisten Kanarienvogel im Bauch oder am Ende ihres Schlüsselbeins beraubt. Und weil dieser Roman ein kluger Roman ist, darf man davon ausgehen, dass sich etwas davon auch den vielen Katzen mitteilt, die ihn durchstreifen.

 

Außer um Katzen geht es in „Mörikes Schlüsselbein“ um Ägypten, um Schamanen, um die Beziehungen von Menschen und Orten, um romantische Dichter, Bettler und die Nächstenliebe – eigentlich um alles. Mit dieser Feststellung könnte es sein Bewenden haben: alles, das ist so viel wie nichts. Das klingt nach Experiment, nach Anstrengung, nach Literaturbetriebsliteratur. Das wird in der Regel einem Autor nicht gedankt. Man wird ihn deshalb nicht gleich mit einem Brokat-Band erdrosseln, wie es jenem Gelehrten ging, den der Kaiser von China in die Welt sandte, damit er erkunde, wie es in den anderen Ländern bestellt sei, und der nach fünf Jahren zurückkehrte mit der Botschaft, es sei alles gleich wie im Reich der Mitte: „Gleich leiden die Menschen und gleich freuen sie sich, gleich versuchen sie die unbegreifliche Absicht der Götter zu begreifen.“

Trümmer untergegangener Reiche und zerfallender Familien

Ein großer Teil von Martynovas Roman, so will uns einer der vielen Schreibenden darin glauben machen, verdanke sich den Aufzeichnungen jenes unglücklichen Gelehrten. Ein befreundeter Sinologe habe sie vom Chinesischen ins Russische übersetzt, und wer auch immer von dort ins Deutsche transferiert.

Ja, die Menschen dieses Romans sind weit in der Welt herumgekommen: ein deutscher Slawist, in zweiter Ehe verheiratet mit einer russischen Germanistin, samt ihrer Patchworkkinder, ein Petersburger Dichter in Amerika, ein amerikanischer Literaturwissenschaftler in der Taiga. Sie wandeln über die Trümmer zerfallender Familien und untergegangener Reiche. Und sie tun, was Menschen zu allen Zeiten versuchen: ihre Gefühle und Beziehungen zu ordnen, der Schwermut zu entgehen, Kaffee zu trinken oder Wodka – je nachdem, und sich die Zeit mit guter Literatur zu vertreiben. Das würde ihnen zweifelsohne etwas besser gelingen, hätten sie das Vergnügen, bereits jenes Buch lesen zu können, das sie beherbergt. Völlig zurecht wurde seine heitere Klugheit, sein ernster Witz statt eines tödlichen Brokatbandes, des Bachmann-Preises für Wert befunden.

Manch alte Szene erscheint in neuem Licht

Der Kaiser von China aber muss ein abgestumpfter, sensationslüsterner Mensch gewesen sein – und ein schlechter Leser obendrein. Es empfiehlt sich nicht, ihn nachzuahmen. Denn in der Vergleichbarkeit aller Verhältnisse liegt nicht nur Leiden, sondern Glück. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die Dinge miteinander kommunizieren, über Zeiten, Räume, Menschen und Kulturen hinweg. Und wollte man beschreiben, was die 1962 in Sibirien geborene und in Frankfurt lebende Olga Martynova in ihrem Roman so treibt, wenn sie denn schon nicht einfach eine gewöhnliche oder ungewöhnliche Geschichte erzählt, dann wäre es vielleicht genau dies: sie lauscht auf die geheime Korrespondenz zwischen Worten, Bildern, zwischen Deutschen und Russen, auf die verwandten Töne zwischen dem unsicheren Lächeln einer Eis-Verkäuferin und dem Abbild einer ägyptischen Pharaonentochter. Und weil sie genau hinhorcht, sieht man bei aller Gleichheit manch alte Szene einer Ehe plötzlich in neuem Licht. Jene etwa, mit der das ganze Leiden erst beginnt.

Die zersplitterte Welt

Hätte Adam Eva wirklich geliebt, hätte er sich erst einmal gefragt, wer da einfach seiner Frau Apfel-Geschenke macht. Und folgender kleiner Dialog hätte der Menschheit vieles erspart: „‚Eva’, hätte er gesagt, ‚bring das Ding sofort zurück und sprich nie wieder mit dem Typen von nebenan.’ ‚Mensch’, hätte Eva gesagt, ‚er ist so ein netter, ein Engel von einem Wurm!’ ‚WURM?!’, hätte Adam gesagt. Und er hätte den Feind erkannt und erschlagen.“ Bekanntlich lief es anders.

Deshalb scheitern Ehen wie die des deutschen Slawisten im Roman. Deshalb sterben Dichter. Und deshalb müssen jene, die auf ihren Spuren wandeln, immer wieder versuchen, die gefallene Welt neu zusammenzusetzen, auch wenn sie dazu nicht mehr in der Hand haben als das angebliche Schlüsselbein des Dichters Eduard Mörike.

Wenn die Götter auf die Löschtaste drücken

Die gebeutelte Philologenfamilie stößt in einer Vitrine bei einem Besuch im Tübinger Stift darauf. Und wem auch immer jener Knochen gehört, Mörike, Hölderlin oder doch einer armen Katze – dass er dort gezeigt wird, ist wahr. Alles andere aber ist schönste Dichtung. Sie nährt sich aus dem Gedächtnis, im Großen wie im Kleinen. „Jeder Mensch ist eine Art Memory Stick, er sammelt Information, die nach seinem Ableben in den Hauptspeicher kommt“, heißt es an einer Stelle.

Olga Martynova verknüpft das im kollektiven Hauptspeicher Verwahrte und setzt es miteinander ins Verhältnis. Wozu das gut ist, zeigt vielleicht ein Blick in die Zukunft: „Die Menschen werden an ihren Geräten sitzen und stehen, die immer ausgeklügelter sein werden. Und eines Tages werden die Götter denken: Wenn es so weiter geht, werden sie so mächtig wie wir. Brauchen wir das? Nein!“ Sollten die Götter einmal tatsächlich auf die Löschtaste drücken, in diesem Buch wäre noch genug Wissen aufbewahrt, um sich damit die langen Tage in Paradies oder Unterwelt angenehm zu verkürzen.

Olga Martynova: Mörikes Schlüsselbein. Roman. Literaturverlag Droschl. 320 Seiten, 22 Euro.

Extrablatt Olga Martynova wird zusammen mit dem Grafiker-Duo 2xGoldstein in der von der StZ und dem Literaturhaus veranstalteten neuen Reihe „Extrablatt“ den Kulturteil dieser Zeitung gestalten. Ihre Seite erscheint am 2. Juli. Am Abend zuvor wird sie in einem von dem StZ-Redakteur Stefan Kister moderierten Gespräch im Literaturhaus vorgestellt. Die Autorin Sibylle Berg und der Zeichner Henning Wagenbreth haben im Februar die Reihe eröffnet.