„Nacht ist der Tag“ heißt der neue Roman von Peter Stamm. Der Schweizer Schriftsteller, Jahrgang 1963, setzt damit seine Generationenerkundung fort. Die StZ-Kritikerin Julia Schröder hat ihn gelesen.

Stuttgart - Die eigene Zukunft, so hat man es sich als sehr junger Mensch vorgestellt, wird weniger chaotisch sein als die Gegenwart. Irgendwann wird die Ungewissheit beseitigt und die Angst beschwichtigt sein, irgendwann wird man endlich wissen, wer man ist und wohin man gehört. Irgendwann ist man erwachsen. Friedlich und heiter ist dann das Alter, das unvorstellbare. Dass nichts davon stimmt, ist das Thema des erfolgreichen Schweizer Schriftstellers Peter Stamm. Mit seinen Erzählungen und Romanen führt der 1963 geborene Autor – nüchtern im Ton, immer grimmer in der Sache – vor Augen, wie es um die heute fünfzigjährigen Wirtschaftswunderkinder und ihr Erwachsenenleben bestellt ist. Und je länger er das tut, je näher ihnen das Alter rückt, desto deutlicher wird es: Alle Möglichkeiten gehabt zu haben schützt vor Strafe nicht.

 

Als Strafe empfindet jedenfalls die Hauptfigur seines neuen, des unterdessen fünften Romans mit dem bei Shakespeare entlehnten Titel „Nacht ist der Tag“, was ihr zugestoßen ist: Wir lernen die erfolgreiche Fernsehmoderatorin Gillian auf der Intensivstation kennen; nach einem schweren Autounfall ist ihr weithin bekanntes Gesicht zerschnitten und entstellt. Den Unfall hat ihr Ehemann verursacht, er ist dabei zu Tode gekommen. Gillian sieht, nicht unbestochen von ihrer unter allem äußeren Glanz virulenten Hasenfüßigkeit, darin eine Art Schicksal am Werk: „Ihr Leben vor dem Unfall war eine einzige Inszenierung gewesen. (. . .) Es musste falsch gewesen sein, wenn es so leicht zu zerstören war, durch eine Unachtsamkeit, eine falsche Bewegung.“

Im Grunde alles bloß Simulation von Interesse

Im Lauf der ersten Hälfte des Buches, Gillians Geschichte im Wechsel von Rückblenden und fortschreitender Teilgenesung, wird natürlich deutlich, dass sie mehr als eine falsche Bewegung gemacht hat. Nicht ausreichend war schon, was ihr als junger Schauspielerin (als „Fräulein Julie“, ausgerechnet) auf der Bühne möglich war, ihr Mangel an echter Präsenz, an Authentizität, was immer das sein mag. Ihre TV-Gespräche mit Künstlern, ihre Porträtfilme – im Grunde alles bloß Simulation von Interesse. Ihre Ehe mit Matthias, dem „Kulturredakteur einer Illustrierten, in der über Kultur kaum berichtet wurde“, eine auf Äußerlichkeiten gründende Verbindung. Und auch ihr Versuch der Annäherung an den Künstler Hubert, der bezeichnenderweise ihm unbekannte Frauen dazu bringt, sich ihm nackt zu zeigen, geht fehl, ihre Hoffnung, von ihm erkannt zu werden, von ihm etwas über sich selbst zu erfahren, wird enttäuscht.