Happy Birthday zum Siebzigsten: Ob der Filmregisseur Rosa von Praunheim je einen richtig guten Film gedreht hat, darüber lässt sich streiten. Jedenfalls hat er die Gesellschaft verändert.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Am vergangenen Montag hat der „Spiegel“ ein Interview mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Jens Spahn veröffentlicht. Spahn vertritt einen Wahlkreis im Münsterland, ist gesundheitspolitischer Experte seiner Fraktion, Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Borken, Mitglied des Fördervereins der Katholischen Jungen Gemeinde der Diözese Münster, engagiert sich im Förderkreis Berlin-Taipeh und an vielen anderen Stellen mehr. Spahn sagte dem „Spiegel“ unter anderem: „Ich möchte ein Signal setzen. Es gibt viele Schwule in der Union, die mit ihrer Partei hadern.“ Und: „Wer heute noch meint, ein Doppelleben führen zu müssen, weil er schwul ist, den treibt eine Angst, die ich für unbegründet halte.“ Und: „Vermutlich könnte ein Schwuler auch Kanzler werden.“ Jens Spahn ist 32 Jahre alt.

 

Rosa von Praunheim wird am Sonntag siebzig Jahre alt. Spahn hat ihm einiges zu verdanken. Kein anderer Name, kein anderer Mensch steht praktisch wie eine Marke für den mühsamen und langwierigen, im Ergebnis aber erstaunlich erfolgreichen Weg wachsender gesellschaftlicher Akzeptanz von Homosexuellen in Deutschland. Und das, obwohl Praunheim niemals einschlägig politisch aktiv war oder Sprecher irgendeines Verbandes oder einer Aktionsgruppe. Dafür war und ist er viel zu eigensinnig und unberechenbar. Er war immer nur Filmregisseur, ein Künstler. Und so erzählt die Geschichte des Rosa von Praunheim letztlich auch die Geschichte der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Kunst.

Indiskretion als Programmatik

In den sechziger Jahren nahm der Frankfurter Jungkünstler Holger Radtke den Künstlernamen Rosa von Praunheim an. Praunheim ist ein Frankfurter Stadtteil, Rosa auch eine Erinnerung an den Rosa Winkel, den zur NS-Zeit schwule KZ-Häftlinge tragen mussten und der sie vielfach nicht nur besonderen Erniedrigungen der SS-Wächter, sondern auch der Mitgefangenen auslieferte. Der Paragraf 175 in der Nazi-Fassung von 1935 war im Westdeutschland der sechziger Jahre weiter geltendes Recht; schwule Beziehungen selbst im privaten Raum waren jederzeit anzeigbar, von Gefängnisstrafe bedroht und wurden von den Staatsanwaltschaften kontinuierlich verfolgt. Die sozialliberale Koalition milderte 1969 zwar die juristische Diskriminierung, ihre Sprecher betonten aber im Bundestag ausdrücklich, daraus dürfe man keinerlei „Toleranz gegenüber den Perversen“ ableiten. In dieser Atmosphäre brachte Rosa von Praunheim 1971 einen Film heraus, dessen an sich verdrechselter Titel schnell den Rang eines Slogans bekam: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“.

Praunheim persifliert in dem Film das Lebensmilieu homosexueller Männer, die sich in einer feindlichen Gesellschaft quasi-barocke Nischen einrichten, um dort „im homophilen Milieu“, wie es in der Polizisten- und Journalistensprache damals hieß, „ihren Neigungen nachzugehen“, zunächst ungestört, weil nach außen diskret. Praunheims Botschaft lautet: Hört auf, diskret zu sein. Wenn es darauf ankommt, sagt er, wird keinen Schwulen dieser Welt irgendeine Art von Diskretion vor Schaden schützen. Praunheim will programmatisch indiskret sein. Deswegen redet er über Liebe und Sex. Deswegen erzählt er von den zig Arten und Lebensformen, die menschliche Sexualität zeitigen kann.

Schwul statt homosexuell

Und deswegen benutzt er in besagtem Filmtitel vermutlich zum letzten Mal das Wort „homosexuell“. Er wählt für sich das Wort „schwul“, das in deutscher Umgangssprache ein Schimpfwort ist. Er sagt: Man bricht die Macht von Schimpfworten nicht dadurch, dass man ihren Schlägen ausweicht, sondern indem man sie den damit schlagenden Sprechern entwendet, positiv füllt und selbst als Titel wählt. Die Gruppen, die sich 1971 nach der Aufführung des Films „Nicht der Homosexuelle ist pervers“ in vielen Städten bildeten, nannten sich daher Schwulengruppen.

Man muss heute an all das erinnern, weil sich wohl niemand in jener Zeit hätte vorstellen können, dass es in Deutschland einmal offen und selbstbewusst auftretende Schwule und Lesben als Gesundheitspolitiker, Außenminister, Fernsehmoderatorinnen, Unternehmer, als Richterinnen oder Lehrer, als Nachbarn und Arbeitskollegen geben würde. Sicher, man kann nicht übersehen, dass es weiterhin wichtige Teile der Gesellschaft gibt, die diese Entwicklung missbilligen und darum hemmen, die Kirchenspitzen ebenso wie CDU und CSU. Auch hat die Debatte in Baden-Württemberg und Bayern etwas mehr Zeit beansprucht als in Berlin oder Hamburg. Zudem ist auf den Schulhöfen in den alltäglichen Existenzkämpfen der Pubertät „schwul“ das beliebteste Schmähwort geblieben. Und dennoch ist es nicht vorstellbar, dass sich dieses Rad einfach zurückdrehen ließe. Und ein kleiner Film des Rosa von Praunheim hat es maßgeblich mit angestoßen.

Kein guter aber ein folgenreicher Regisseur

Das ist umso erstaunlicher, als im Grunde weder der berühmte Film von 1971 noch die vielen folgenden Filme im klassischen Sinn gut sind. Nein, Rosa von Praunheim ist kein guter Regisseur. Seine Filme sind chaotisch, dramaturgisch ungelenk, überdreht, anstrengend, meist ohne rechtes Ende, ohne Pointe. Er selbst sagt: „Ich hab schon gute Filme gemacht. Aber schlecht waren sie vor allem, wenn ich mal viel Geld zur Verfügung hatte. Ich bin kein Ästhet, das kann ich einfach nicht. Die Leute sagen immer: Rosa, lass dir doch mal Zeit. Aber ich will mir gar keine Zeit lassen. Am liebsten will ich heute die Geschichte aufschreiben, morgen das Casting machen und übermorgen drehen.“ Das sieht man seinen Filmen an. Viele Filmkritiker kritisieren ihn nicht einfach, sie verachten ihn. Sie verstehen nicht, warum er sich keine Mühe gibt, und seine Themen erscheinen ihnen randständig.

Aber gerade mit diesen nie an Form und Verpackung, nur an Menschen, nur am Privaten interessierten Chaotereien hat Rosa von Praunheim in den vergangenen dreißig Jahren doch eine Reihe faszinierender Geschichten geradezu ausgegraben, jene etwa von der Kunst- und Ausdruckstänzerin Lotti Huber oder der Charlotte von Mahlsdorf, einem hoch engagierten DDR-Denkmalschützer in Frauenkleidern, auch dank Praunheim in den neunziger Jahren mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Praunheim fordert dazu auf hinzusehen, welche Vielfalt das Leben annehmen kann – wenn man es denn leben lässt.

Jeder hat das Potenzial zum Künstler

Praunheim wird siebzig – unfassbar. Wer sich mit ihm trifft, wird vielleicht überrascht sein, wie ruhig und behutsam er inzwischen im Gespräch ist. Dennoch muss man stets damit rechnen, plötzlich nach seinem Sexleben befragt zu werden. Bis heute misstraut der Künstler einem gesellschaftlichen Komment, der Diskretion fordert und eine Pflicht zur Privatsphäre beschwört, um im Schutz des derart Unausgesprochenen unangreifbar ausgrenzen zu können. Für ihn ist die Indiskretion keineswegs die boulevardeske Sucht nach dem Pikanten, sondern ein Lebenskonzept. Ihn interessiert nicht die Enthüllung, sondern das Selbstbekenntnis. Er propagiert die Selbstinszenierung als einzig wirksame Waffe gegen die Fremdbestimmung. So hat selbst der ganz kleine Mann das Potenzial zum Künstler. Man muss das nicht teilen. Politisch bleibt es gleichwohl.

Jens Spahn ist rund vierzig Jahre jünger als Rosa von Praunheim. Vierzig Jahre nach dem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers“ wirbt der CDU-Abgeordnete Spahn im „Spiegel“ für die stärkere Gleichstellung der Homo-Ehe mit dem Argument: „Als Konservative können wir uns darüber freuen, wenn zwei Menschen, rechtlich verbindlich, füreinander Verantwortung übernehmen, in guten wie in schlechten Zeiten. Gibt es einen bürgerlicheren Lebensweg?“ Nun, das Beschwören konservativer Werte wird selbst einem altersmilden Praunheim wesensfremd bleiben. Das „Spiegel“-Interview ist dennoch auch ein Ergebnis seines Werkes, wenn auch verwickelt, dialektisch, um einige Ecken, wie das Leben halt spielt. Er selbst wird sich dazu am siebzigsten Geburtstag vielleicht nicht gratulieren. Andere schon.