Stuttgart hat im Leben des umstrittenen Reformers Rudolf Steiner eine zentrale Rolle gespielt, nirgendwo hat er mehr geschaffen.

Stuttgart - Rudolf Steiner zu begegnen, ist praktisch unvermeidlich in diesem Jahr. Man trifft ihn hier und da, selbst an Orten, an denen man es eher nicht vermuten würde. So zeigt etwa das Kunstmuseum im Jubiläumsjahr, in dem sich der Geburtstag Steiners zum 150. Mal jährt, eine große Sonderschau, die von etlichen Veranstaltungen an verschiedenen Orten begleitet wird. Geladen wird zu Stadtspaziergängen, zu Konzerten, Lesungen und auch zu einer Gesprächsreihe, bei der Anthroposophen und Nichtanthroposophen über einzelne Bereiche der von Steiner entwickelten Weltanschauung kontrovers diskutieren - von der Pädagogik über die Landwirtschaft bis zur Medizin und Theologie.

Auf der ganzen Welt gibt es heute Menschen und Einrichtungen, die nach Steiners Lehren leben - die eben von Stuttgart aus hinausgetragen und von Mumbai bis Montevideo verbreitet worden sind. "Stuttgart zieht sich wie ein roter Faden durch Steiners Wirken, die Stadt war für ihn das Tor zur Wirksamkeit in die kulturellen und sozialen Verhältnisse seiner Zeit", sagt Andreas Neider, Herausgeber zahlreicher anthroposophischer Publikationen und Leiter einer Kulturagentur. Im Stuttgarter Spemann Verlag erschienen Steiners erste Schriften, in Stuttgart hielt er 1904 seinen ersten öffentlichen Vortrag vor 500 Zuhörern, in Stuttgart wurde 1911 die erste Waldorfschule weltweit gegründet. "Nirgendwo sonst hat Steiner mehr Sichtbares geschaffen und hinterlassen", sagt Neider, der aus gegebenem Anlass zusammen mit dem Stadthistoriker Harald Schukraft ein Buch über Steiners Stuttgarter Zeiten geschrieben hat, das diese Woche erscheint.

Heute gibt es weltweit fast tausend Waldorfschulen


Das geistige Leben im Stuttgart der Wende zum 20. Jahrhundert sei stark von Einzelpersönlichkeiten geprägt gewesen, dazu habe auch Steiner gezählt, sagt Schukraft. Seine frühen Anhänger hätten ihn immer wieder für Vorträge nach Stuttgart geholt, wo er, etwa in der alten Liederhalle oder im Gustav-Siegle-Haus, vor bis zu 2000 sprach. Außer diesem "geistigen Nährboden" fand Steiner hier zudem auch Impuls- und Geldgeber, einige Stuttgarter Fabrikanten, die ihm den weiteren Weg bereiteten. Zu diesem Kreis der Freidenker zählte neben dem Cannstatter Carl Unger, der eine Werkzeugmaschinenfabrik hatte, vor allem auch Emil Molt, der Gründer der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria.

Auf dessen Anregung hin, auch Arbeiterkindern den Zugang zur höheren Bildung zu ermöglichen, wurde 1919 auf der Stuttgarter Uhlandshöhe in einem dafür umgebauten Ausflugslokal die erste Waldorfschule eröffnet. Der Zulauf, den die erste Einheitsschule für Mädchen und Jungen von der ersten bis zur zwölften Klasse hatte, sei von Beginn an enorm gewesen, sagt Neider. Bis Anfang der 1930er Jahre sei sie mit mehr als 1100 Schülern die größte Schule in Stuttgart gewesen.