Das Konzertjahrzehnt in Stuttgart hat viele große Namen geboten, hinterlässt aber auch einige Enttäuschungen. Ein Rückblick auf die Höhepunkte – und andere denkwürdige Entwicklungen.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Die zehner Jahre begannen für das Stuttgarter Konzertleben buchstäblich mit einem Donnerschlag. Am 13. Juni 2010 bestritt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihr erstes Spiel bei der Weltmeisterschaft in Südafrika, was allerdings 65 000 Menschen nicht daran hinderte, zeitgleich zum Konzert von AC/DC auf dem Cannstatter Wasen zu pilgern. Fast schon zum Abschluss des Jahrzehnts, im Sommer 2018, spielten ebendort die Toten Hosen – vor rund sechzigtausend Besuchern, weswegen der Auftritt der australischen Hardrocker somit zwar knapp, aber letztlich dann doch das bestbesuchte Konzert der zehner Jahre in Stuttgart war.

 

Der Wasen wird für die ganz großen Konzerte noch immer bespielt, und ebenso das Stadion. Im Jahr 2020 wird sogar ein neuer Rekord mit fünf Auftritten in der Mercedes-Benz-Arena aufgestellt werden, aber auch im ablaufenden Jahr waren es immerhin drei: Andreas Gabalier, Pink und Phil Collins lockten heuer jeweils rund 40 000 Besucher an.

Das Livegeschäft boomt

Überhaupt hat das Livemusikgeschäft in den zehner Jahren Dimensionen angenommen, die man sich nie hätte träumen lassen. Waren früher Schleyerhallen-Konzerte seltene Höhepunkte des Konzertjahrs, sind es mittlerweile im Schnitt bald zwei Gastspiele pro Monat in Stuttgarts größter Arena. Bemerkenswert dabei ist nicht nur, dass mittlerweile auch Künstler die Halle füllen, deren Namen der breiten Masse so gar nichts sagen, sondern auch, in welchem Tempo die Karten im Vorverkauf oft weggehen.

Dass Konzerte binnen Minuten ausverkauft sind (wie etwa bei den zwei kommenden Rammstein-Terminen) und viele Interessenten nicht einmal mehr auf die Homepage des Ticketportals gelangen, weil diese völlig überlastet ist – das gab es früher so wenig wie einen Ticket-Exklusivverkauf bei Aldi (so für die zwei anstehenden Fanta-Vier-Konzerte).

Zwei mindestens ebenso wichtige Konzert-Venues am anderen Ende der Größenskala haben hingegen dichtgemacht: die Röhre und das Schocken. In letzterem gastierte etwa Beth Ditto mit The Gossip, ehe die Band große internationale Erfolge erzielte. Doch 2017 warfen die Gründungsbetreiber der Röhre das Handtuch. Bereits am 15. Januar 2012 hingegen spielte die Band A pale Horse named Death in der Röhre – und danach war der Club am Wagenburgtunnel, erzwungen durch Stuttgart 21, Geschichte. Auch hier spielten so manche Größen: Rammstein etwa oder die Band Nickelback, die erstmals in Deutschland überhaupt im August 1995 in der Röhre auf der Bühne stand, ehe sie zu einer Weltkarriere ansetzte.

Der Verlust der Röhre wiegt für das Stuttgarter Livekonzertleben schwer, ebenso wie im Jahrzehnt davor bereits die Schließung des Messe-Congresscentrums. Hinzu kommen diverse andere Clubs, etwa das Zwölfzehn, die längst nicht mehr existieren. Umso erfreulicher, dass es seit September 2015 eine neue Spielstätte gibt, das Wizemann. Mittlerweile findet dort ein regelmäßiger Konzertbetrieb in zwei Hallen statt, hier hat man auch das Gefühl, dass die Musik eindeutig im Vordergrund steht. Dieses Gefühl schleicht sich bei den Wagenhallen leider nicht (mehr) ein, hier finden seit der Renovierung nur noch selten Konzerte statt. Und so wird die Debatte über die diversen Spielstätten und die Notwendigkeit eines Konzerthallenneubaus, die am Ende dieses Jahrzehnts merklich aufgeflammt ist, sicher auch den Beginn des nächsten prägen.

Was die großen Festivals betrifft, so ist das Ende der traditionsreichen Hip-Hop Open zu betrauern. Angesichts des künstlerischen Anspruchs ist es zumindest betrüblich, dass das New Fall Festival Stuttgart den Rücken gekehrt hat. Den hohen künstlerischen Anspruch setzen dafür weiterhin die Jazz Open durch, die sich spätestens in diesem Jahrzehnt fest im Herzen der Stadt etabliert haben. Neu hinzugekommen ist das Kessel-Festival.

Schwierige Suche nach Höhepunkten

Und was waren nun die unvergesslichen Highlights? Sicherlich haben die Rolling Stones noch immer so viele Freunde, dass das Gastspiel der Kultband im Juni 2018 im Stadion unvergessen bleibt. Am außergewöhnlichsten war gewiss die Liveschalte zu Astro-Alex, mit der die Band Kraftwerk bei den Jazz Open im gleichen Jahr ihren fast schon überirdischen Status untermauerte. In trauriger Erinnerung: Whitney Houstons desaströser Auftritt im Mai 2010; der körperliche Verfall war der Diva, die zwei Jahre später starb, überdeutlich anzusehen.

War’s die Jugendlichkeit Lena Meyer-Landruts beim Auftritt in der Schleyerhalle 2011, nur wenige Monate nach ihrem Triumph beim Eurovision Song Contest in Oslo? Oder die würdige Reife der Überlebenskünstlerin Marianne Faithfulls im Hegelsaal 2014? Waren es die kleinen feinen Perlen, wie Cindy Blackmans überbordender Auftritt im Bix, oder das Happening, als Placebo vor 35 000 Menschen auf dem Schlossplatz spielten? Was jetzt tatsächlich das Konzert des Jahrzehnts war, wird jeder für sich selbst sicherlich anders entscheiden.

Auf jeden Fall sind sie – auch wenn’s noch schwer zu glauben fällt – bald da, die zwanziger Jahre. Und wer bei diesen Worten an Jazz und Swing, Charleston und Lindy Hop oder die Comedian Harmonists denkt, der liegt richtig: Das sind alles Sachen, die demnächst tatsächlich schon hundert Jahre alt sein werden.