Deutschland hat 100 000 Corona-Tote zu beklagen, die Zahl der Neuinfektionen ist so hoch wie noch nie. Manche Stimmen haben genau davor gewarnt. Aber als noch Zeit war zu reagieren, passierte: Nichts.

Stuttgart/Berlin - Überbringer schlechter Nachrichten einen Kopf kürzer zu machen ist in der Weltgeschichte lange Zeit ein probates Mittel gewesen. Heute gibt es für die Herolde missliebiger Botschaften Liebesentzug, vor allem, wenn die aus der Politik kommen – was weniger Stimmen bedeutet. Das ist der Grund dafür, dass Verantwortungsträger in Sachen Corona immer wieder gerne erklärt haben, was das Volk vermeintlich gerne hört, nämlich dass bald alles wieder besser werde. Warnende Stimmen blieben oft ungehört. Das hat dazu geführt, dass die Geschichte von Corona eine Geschichte des Scheiterns ist. Ein Rückblick.

 

Winter Die Infektionszahlen hatten gerade ungeahnte Höhen erklommen. Das Robert-Koch-Institut (RKI) zählt mehr als 30 000 Infektionen am Tag, eine unvorstellbar hohe Zahl, damals. Impfstoff ist Mangelware. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verbreitet aber Optimismus. Schritt für Schritt werde man „die Pandemie kontrollieren lernen“. Da erscheint im „Spiegel“ ein Interview mit dem Virologen Christian Drosten. Der malt die Horrorzahl von 100 000 Infizierten pro Tag an die Wand und warnt vor dem politischen Druck, Schutzmaßnahmen zu früh zu beenden. Mit seiner zeitlichen Prognose liegt Drosten falsch. Er hat diese Zahlen für den Sommer erwartet. Inhaltlich liegt er richtig.

Frühling Bis Mitte April steigen die Zahlen der Impfungen, die der Tests – und die der Infektionen. Die britische Variante des Virus, Alpha genannt, ist da. Die Osterruhe wird beschlossen und zwei Tage später wieder gekippt. Lockdown-Maßnahmen werden verschärft, das Kommunikationschaos ist gewaltig. Im Vorwahlkampfgetöse fordert FDP-Chef Christian Lindner, die Kanzlerin möge die Vertrauensfrage stellen. Dann wird es wärmer.

Sommer Juli, Reisezeit. Impfnachweise und Fiebermessen am Terminal sind meist Geschichte. Es ist ein Gefühl – wie früher. Die FDP fordert ein Konzept für den Ausstieg aus den Coronamaßnahmen; Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) plädiert für weitere Lockerungen bei steigender Impfquote. Die Impfquote steigt aber nur noch in Trippelschritten. Egal, der Ruf nach dem Ende aller Beschränkungen wächst zu einem vielstimmigen Chor. Die Sieben-Tage-Inzidenz ist zu diesem Zeitpunkt von fast 170 Mitte April auf unter fünf gesunken.

Der damalige „Bild“-Chef Julian Reichelt verkündet im Juli: „Wir haben Corona besiegt. Wann hört der Regel-Wahnsinn endlich auf?“ Es sind Schlagzeilen wie diese, die auch die Politik nicht kaltlassen. Viele der Coronabeschränkungen fallen. Kirmes mit Test, Konzerte mit Maske. Heimlich, still und leise hat zu diesem Zeitpunkt die Delta-Variante die Herrschaft übernommen. Kommentatoren bringen im Juli Zugangsbeschränkungen für Ungeimpfte ins Gespräch, im August eine allgemeine Impfpflicht. Beides wird in der öffentlichen Diskussion erst später eine Rolle spielen.

Während die Sommerferien auch in Baden-Württemberg ihrem Höhepunkt entgegenstreben, beginnt in Israel die dritte Impfwelle. Trotz Sommer hat Delta die Infektionszahlen dort in die Höhe schnellen lassen. Doppelt geimpft – das wirkt zwar, aber es wirkt nicht so lange und so gut, wie man sich das erhofft hatte. Es kommt vermehrt zu Ansteckungen auch bei Geimpften, wie man durch eine Studie weiß. Das liegt vor allem an der Delta-Variante, die auch in Deutschland dominiert. Tests braucht man als Geimpfter hier aber nicht. In Baden-Württemberg und vielen anderen Bundesländern werden im August vielmehr die zentralen Impfzentren geschlossen.

Als Jens Spahn die 2-G-Regel (geimpft oder genesen) in der Gastronomie und bei Veranstaltungen ins Gespräch bringt, hagelt es Kritik. Das sei nicht die Position der Regierung, sagt Justizministerin Christine Lambrecht vom Koalitionspartner SPD. FDP-Vize Wolfgang Kubicki schimpft, die Idee käme einer Impfpflicht gleich. Noch vor den Bundestagswahlen werden Beschlüsse gefasst, die Leben wie früher suggerieren. Anfang September fällt in Schleswig-Holstein die Maskenpflicht in Kinos und Restaurants, im Südwesten darf in Clubs wieder gefeiert werden. Zu einer Zeit, in der die Intensivstationen kaum Coronapatienten haben, wirkt der Druck der niedrigen Zahlen: Die Politik verabschiedet sich vom Inzidenzwert, der als Frühindikator gute Dienste geleistet hat. Nun sollen Maßnahmen bei einer Hospitalisierungsinzidenz greifen. Doch diese Zahlen treffen oft so verspätet ein, dass es für Maßnahmen schon fast zu spät ist.

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Herbst Ab Mitte Oktober schießen die Infektionszahlen nach oben. Die alte Bundesregierung ist geschäftsführend im Amt, die neue Ampelkoalition rüttelt sich über Wochen zurecht. Es entsteht ein Handlungs- und Machtvakuum. Zu dieser Zeit schlägt der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister vor, die „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ zu beenden. Dieser Ausnahmezustand ermöglicht schnelles Handeln, er ist das Werkzeug für Lockdowns. Die Ampel greift den Vorschlag noch Ende Oktober auf. „Schulschließungen, Lockdowns und Ausgangssperren wird es jedenfalls mit uns nicht mehr geben“, sagt SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese.

Gleichzeitig gibt es in Bayern vielerorts kaum noch freie Intensivbetten. Die Intensivmediziner-Vereinigung Divi warnt, dass man im Vergleich zum Jahresanfang 4000 Betten verloren hat. Viele Pflegerinnen und Pfleger wollen sich den Job nicht mehr antun. Wenn die Zahlen deutlich nach oben gehen, „werden wir wieder Operationen absagen“, sagt Divi-Präsident Gernot Marx. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt Ende Oktober bei 154,8, fast alle Parameter sind höher als im Vorjahr um diese Zeit. Genau zwei Drittel der Menschen in Deutschland sind zu dieser Zeit geimpft. Zu wenig, da sind sich viele Expertinnen und Experten einig.

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Am 29. Oktober kündigt Spahn erstmals Boostern für alle an. Empfohlen sei die Auffrischungsimpfung für alle über 60 Jahre, für Menschen mit Vorerkrankungen oder in Gesundheitsberufen. Für alle anderen sei es aber auch möglich. Die Ständige Impfkommission (Stiko) wiederum empfiehlt die Boosterimpfung erst ab 70 Jahren. Der Hausärzteverband sagte, man halte sich an diese Empfehlung. So geht Verunsicherung.

Dazu ruft Spahn Anfang November die Länder auf, ihre Impfzentren wieder hochzufahren. Viele davon hatten erst ein paar Wochen zuvor geschlossen. In Baden-Württemberg schickt man lieber mobile Impfteams auf die Straße, dort ist der Andrang manchmal enorm. Während die FDP Mitte November immer noch gegen die Schlechterstellung von Ungeimpften ist, wird immer klarer, dass die vierte Welle mit Impfungen nicht mehr zu brechen ist. RKI-Chef Lothar Wieler sagt am 12. November, „es ist fünf nach zwölf“. Bisher hat er vor der Katastrophe gewarnt, jetzt stellt er sie fest: „Die vierte Welle trifft uns mit voller Wucht.“ Wieler empfiehlt, jeder solle seine privaten Kontakte einschränken, Großveranstaltungen sollten abgesagt werden. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagt zu dieser Zeit erstmals, er schließe einen Lockdown nicht aus. Selbst Kanzlerin Angela Merkel, die sich seit der Bundestagswahl in Sachen Corona zurückgehalten hat, sagt nun in einer CDU-Sitzung: „Wir haben ein Lage, die alles übertreffen wird, was wir bisher hatten.“

Ende November jagt ein Negativrekord den anderen: 100 000 Coronatote, 75 000 Neuinfektionen an einem Tag, eine Inzidenz weit über 400. Eine Impfpflicht wird diskutiert. Im Südwesten gilt die Alarmstufe II, es gilt 2 G plus in Bars und Clubs, 2 G in Restaurants und Museen. Was Spahn mehr als drei Monate zuvor aufs Tableau brachte, setzt sich langsam durch. Viele Weihnachtsmärkte werden abgesagt. In manchen Orten mit besonders hohen Inzidenzen gelten Ausgangsbeschränkungen für Ungeimpfte. In Bayern müssen in solchen Orten auch Gasthäuser und Hotels schließen – kleine Lockdowns. Aber immer häufiger, immer drängender werden die Forderungen nach stärkeren Einschränkungen. Das Land ist wieder da, wo es im vorigen Winter schon war.