Der Königsstuhl auf Rügen gehört zu den bekanntesten Ausflugszielen Deutschlands. Doch der Kreidefelsen bröckelt. Die Insulaner streiten um die Zukunft ihres Wahrzeichens.

Sassnitz - Die Erde ist staubig und trocken nach der Hitzeperiode. Von oben rieseln gelbe Blätter auf den Weg – wie im Herbst. Mit Rucksäcken, Sonnenbrillen und Trinkflaschen stapfen die Wanderer durch den Wald von Rügen. Einer will sich eine Zigarette anstecken. Ein Park-Ranger, der das sieht, schreitet ein: Waldbrandgefahr!

 

Bis zu 800 000 Besucher kommen jedes Jahr zum Königsstuhl im Nationalpark Jasmund. Sobald die Felsformation in Sichtweite kommt, zücken die meisten ihre Smartphones. Nur die Holztreppe in der Nähe von Lohme, die von dem berühmten Kreidefelsen hinunter zum Strand führt, betritt niemand mehr. Zwei Holzgitter und mehrere Warnschilder sollen Wagemutige abhalten:

Betreten verboten!

Gefahr von Kliffabbrüchen

Gefahr von herabfallenden Ästen

Vorsicht Steinschlag

Die meisten nehmen die Hinweise kommentarlos zur Kenntnis. Sie wandern weiter, schauen sich die Eiszeit-Ausstellung im Besucherzentrum des Nationalparks an. Von der Debatte, die auf der Insel seit Jahren um die maroden Holzplanken geführt wird, bekommen die Urlauber wenig mit, wenn sie nicht gerade Lokalzeitungen lesen.

Die gesperrte Holztreppe bei Lohme bringt die Insulaner in Rage

Ein paar Kilometer weiter nördlich sitzt Jörg Burwitz auf der Terrasse seines Lokals mit dem schönen Namen t „Daheim“. Eigentlich könnte der 62-jährige Gastwirt aus Lohme sich zurücklehnen. Strandkörbe, Sonnenschirme und frisch gestrichene Holzstühle stehen für die Gäste bereit, es duftet nach überbackener Dorade. „Noch sind genügend Urlauber da“, sagt Burwitz. „Aber wie lange noch? Wir erleben hier einen konstanten Rückgang an touristischen Angeboten.“

Burwitz war bis 2009 Bürgermeister von Lohme, dem 450-Einwohner-Ort im Norden von Rügen. Politisch engagiert ist er noch, jetzt allerdings in einer Bürgerinitiative. „Bewahrt Lohme“ heißt sie, wenngleich ihre Mitglieder nicht nur für den Ort, sondern für die ganze Insel kämpfen wollen. Im Fokus: jene Treppe, auf die im Mai 2016 ein Baum fiel und die seitdem gesperrt ist, aus Sicherheitsgründen, wie die Behörden mitteilen.

Die Sanierung der Treppe sei lange geplant und politisch gewollt gewesen, sagt Ingolf Stodian, der den Nationalpark Jasmund leitet. Das Geld habe zur Verfügung gestanden, sagt er, aber der „Zwischenfall mit dem Baum“ habe zu einer Neubewertung geführt: „Das hat das ganze Projekt zum Einsturz gebracht.“ Der 50-Jährige weiß, welche Emotionen die Holztreppe auf Rügen auslöst: „Ich bedauere das sehr, aber ich kann deswegen keine Rechtsbeugung betreiben.“

Für Zoff sorgt eine Aussichtsplattform, die auf dem Königsstuhl entstehen soll

Viele Rügener wollen das nicht hinnehmen. „Der Wunsch ist einfach da, nach unten zu kommen“, sagt Marion Prager-Wiehn, die in Lohme eine Weberei betreibt. „Die Leute wollen den imposanten Anblick vom Strand aus genießen und zwar nicht nur die Touristen, sondern auch wir Einwohner.“ Burkhard Rahn (59) Fliesenleger, Gemeinderat und Mitglied der Bürgerinitiative, vermutet kommerzielle Interessen: Die Wanderer sollten ins Nationalparkzentrum gelockt werden. „Man kommt nicht mal mehr auf Toilette, ohne 9,50 Euro Eintritt zu bezahlen.“

Für weiteren Zoff sorgt eine sieben Millionen Euro teure Aussichtsplattform, die auf dem Königsstuhl entstehen soll. Die Computergrafik zeigt: Wie ein Ring wird sie auf der Klippe liegen und zu schweben scheinen, gehalten nur von einem stählernen Abspannmast, der tief im Boden verankert ist. Genau dieser Mast sorgt für Unmut. Die Gegner des Projekts befürchten einen Schandfleck, der Touristen vergrault. Die anderen nehmen ihn als filigrane Konstruktion wahr, die Tourismus fördert.

Befürworter der Plattform halten sie für unbedingt nötig

Aus 500 Meter Entfernung werde man das Bauwerk später nicht mehr sehen, sagt Mark Ehlers, Geschäftsführer des Nationalparkzentrums. Er zeigt auf den aktuellen Aussichtsweg, der auf den hervorstehenden Felsen führt. „Wegen der Küstenerosion wird der Übergang immer schmaler“, sagt er. „Wenn der Stein immer mehr abbricht, gibt es irgendwann keinen Zugang mehr.“ Deshalb brauche man die neue Plattform.

Unten, im Wald, verteilt Matthias Ogilvie Werbeflyer: „Frische Waffeln, Kuchen, Kaffee.“ Der Gastwirt ist Bürgermeister von Lohme. Die gesperrte Holztreppe? „Muss bleiben.“ Der neue Ausguck? „Eine fantastische Attraktion.“ In diesem Moment kommt Burkhard Rahn vorbei, der Aktivist aus Lohme. Während Ogilvie von der Aussichtsplattform schwärmt, fällt ihm Rahn ins Wort: „So ein Blödsinn. Was wollen wir mit dem Ding? Dann wird der Eintritt noch teurer. Das frustriert die Leute.“

Ein paar Minuten lang diskutieren die Männer über öffentliche Toiletten, Investitionen und Besucherströme. Niemand brüllt, und als Abschiedsgruß heben beide die Hand. Trotz aller Unterschiede vereint sie dann eben doch ein Ziel: den eigenen Ort attraktiv zu halten. Und die ganze Insel.