Er hat erst 15 Länderspiele bestritten. ist aber bereits Denker und Lenker der legendären All Blacks. Richie Mo’unga will mit Neuseeland ins Finale der Rugby-WM einziehen – und seinem Idol nacheifern.

Tokio - Es gibt ein ganz besonderes Bild aus der Vor-Selfie-Zeit, genauer genommen: aus dem Jahr 2008. Richie Mo’unga war 14 Jahre alt und bat Dan Carter, mit ihm für ein Foto zu posieren. Der damals 26 Jahre alte Carter war seinerzeit der überragende Spielmacher der All Blacks, Neuseelands legendärer Rugby-Nationalmannschaft – und Mo’unga hatte einen Traum. Irgendwann einmal wolle er in die Fußstapfen von „Dan the Man“ treten – nun ist er nahe dran, dieses Kunststück zu endgültig zu vollbringen.

 

Bei den Crusaders in Christchurch ist das Kapitel bereits geschrieben. Mo’unga, dessen Mutter Lila aus Samoa und dessen Vater Saimone aus Tonga stammt, hat den Club in der Liga der südlichen Hemisphäre zu drei Titeln in Folge geführt. Und jetzt, elf Jahre nach dem Schnappschuss, hat er bei der Weltmeisterschaft in Japan die Chance, im ersten Versuch das zu schaffen, wozu sein Idol drei, beziehungsweise vier Anläufe brauchte (im Finale 2011 musste er verletzt zuschauen): den Webb-Ellis-Cup in die Höhe zu recken.

Im WM-Halbfinale wartet England

Dazu müssen Mo’unga und seine All Blacks im Halbfinale an diesem Samstag (9.30 Uhr MESZ/Pro Sieben Maxx) aber erst einmal England schlagen und dann im Finale eine Woche später den Sieger des Duells zwischen Wales und Südafrika. Möglich ist das unter anderem deshalb, weil sich die Doppelspielmacher-Rolle mit Newcomer Mo’unga in der zentralen Rolle und Beauden Barrett, der in die Position des Fullbacks versetzt wurde, als Wunderwaffe entpuppt hat.

Das Bemerkenswerte an dieser Konstellation ist, dass der 25-jährige Mo’unga zwar keineswegs aus dem Nichts kam, aber bei seinem rasanten Aufstieg zum Regisseur des Nationalteams den Weltrugbyspieler der Jahre 2016 und 2017 von dessen Lieblingsposition verdrängte.

„Er kann ein Spiel unglaublich gut lesen“

Mo‘ungas Spielmacher-Qualitäten erkannte Joe Leota, Trainer am St. Andrew’s College, schon sehr früh. „Er konnte Dinge sehen, bevor sie passierten“, sagt er über den Mann, der erst 15 Länderspiele auf dem Buckel hat, „er kann ein Spiel unglaublich gut lesen. Und er hat das nötige Selbstvertrauen.“ Der Dauerdruck, dem die All Blacks als dreifacher Weltmeister und Titelverteidiger ausgesetzt sind, hemmt Mo’unga nicht, er beflügelt ihn. „Ich liebe Herausforderungen“, sagte er nach dem Kantersieg im Viertelfinale gegen Irland, „wenn man kein Wettkampf-Typ ist, sinkt das Niveau und die Leistung lässt nach.“

Lesen Sie hier: Neuseelands legendäre Rugby-Generation

Dan Carter, der nach der WM 2015 seine Karriere bei den All Blacks beendet hat, setzte einst den Maßstab für die Einstufung von Spielmachern. In Neuseeland wurde dem 37-jährigen Maestro dafür eine Art Denkmal gesetzt mit der Ende August in den Kinos angelaufenen Filmdokumentation „A Perfect 10“. Die perfekte Nummer zehn – die denkt und lenkt und Spiele entscheidet. Mit Schnelligkeit, Gewandtheit und Präzisionskicks erzielte er in 112 Länderspielen 29 Tries und 1598 Punkte – ein Rekord für die Ewigkeit. Er verteilte den Ball blitzschnell mit Hand und Fuß, überrumpelte gegnerische Abwehrreihen, war trotz fehlender Kleiderschrank-Statur (1,78 Meter/96 Kilogramm) unerschrocken beim Tackling.

Dicke Oberschenkel, leichter Watschelgang

Richie Mo’unga, 1,78 Meter groß und 88 Kilo schwer, ein witziger Typ mit verschmitztem Lächeln, leichtem Watschelgang und dicken Oberschenkeln, hat dieselben Qualitäten. Bei den Crusaders wie bei den All Blacks hat er die indirekte Nachfolge des Weltrugbyspielers der Jahre 2005, 2012 und 2015 angetreten. Den neuen Dirigenten, der Klavier spielt und gerne, aber nach eigenen Worten schlecht tanzt, musste der 28-jährige Barrett (82 Länderspiele) erst einmal akzeptieren – was dem großen, schlanken Supersprinter gar nicht so leicht fiel.

„Fullback ist nicht meine Lieblingsposition“, gibt Barrett zu, „aber wenn es für die All Blacks das beste ist, habe ich kein Problem damit. Rugby ist ein Mannschaftssport, und ich sehe die Vorteile der Aufgabenverteilung.“ Mit jedem Spiel wachsen Harmonie und Verständnis. „Es liegt mir im Blut, zu rennen und anzugreifen, aber wenn man auf diese stürmenden Abwehrreihen trifft, muss man anders agieren und die Mitspieler anders einsetzen“, beschreibt Mo’unga sein Tun.

Das Interessante ist, dass Beauden Barrett auch bei der WM vor vier Jahren nur als Fullback zum Einsatz kam, denn damals gab Dan Carter den Ton an und verabschiedete sich nach vielen, vielen Tiefschlägen in seiner Karriere mit einem unvergleichlichen Finale – wissend, dass dies seine letzte Chance war, Weltmeister zu werden und dabei selbst Regie zu führen. Er erzielte beim 34:17-Triumph über Australien 19 Punkte, zur Krönung verwandelte er den Bonuskick mit dem „falschen“ Fuß, dem rechten.

Dan Carter machte ansonsten alles mit Links, Richie Mo’unga ist Rechtsfüßer – und dennoch sein Nachfolger. Demnächst vielleicht auch als Weltmeister.