Theater ist und bleibt politisch – zumindest, wenn es nach dem Chef der Ruhrtriennale, Johan Simons, geht. Der gebürtige Holländer erklärt im Interview außerdem, was er an seinem Kollegen Claus Peymann schätzt und weshalb Bochum sexy ist.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Die diesjährigen Festspiele stehen unter dem Motto „Seid umschlungen“. Der Chef der Ruhrtriennale, Johan Simons, hält die Beethoven-Botschaft für aktueller denn je.

 
Herr Simons, Sie verwenden Begriffe bei der Ruhrtriennale wie Utopie und Zukunftsvision, und das schöne Motto „Seid umschlungen“, das klingt leicht sozialistisch. Oder ist es ironisch gemeint?
Das ist nicht ironisch gemeint. Wir fragen grundsätzlich auch, was Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit heute bedeuten.
Ist der Sozialismus eine lebbare Utopie auch nach den Erfahrungen der jüngeren Zeitgeschichte?
Ich bin jemand, der vom Humanismus geprägt ist. Sagen wir so, wenn Sie die Begriffe Kapitalismus und Sozialismus nebeneinander legen, wäre ich immer noch eher für Sozialismus.
Stellt aber Kunst nicht alles in Frage? Auch solche Begriffe?
Dass dies so ist, sehen Sie an der schwarzen Übersprühung auf dem Programmheft. Wir arbeiten mit Beethovens „Freude schöner Götterfunken“. Als wir die Plakate vor einem halben Jahr entworfen haben, dachten wir, ja, schön, aber für wen? Wir haben also einen schwarzen Streifen darüber gelegt, damit dahinter das Wort noch zu sehen ist, aber das Ganze hat etwas Aggressives. Das haben wir so entschieden, weil wir uns große Sorgen um Europa gemacht haben. Da war die Frage nach der Willkommenskultur in Sachen Flüchtlinge. Und durch Frankreich geisterte der Front National. Die Welt sah ziemlich schwarz aus.
Die Leute haben dann aber nicht Front National gewählt.
Das hat mir wirklich Freude gemacht. Wenn ich jetzt ein Plakat machen könnte, wäre es wieder ein anderes. Ich bin stolz, dass wir das Ticken der Zeit wahrnehmen.
Wie kam es dazu, mit „Pelléas und Mélisande“, dirigiert vom Stuttgarter Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling, das Festival zu eröffnen? Inwiefern passt Maeterlinks symbolistisches Liebes-Eifersuchts-Drama zu dem politischen Anspruch des Festivals?
In „Pelléas et Mélisande“ geht es um Wahrheit. In Zeiten von Trump und Fake News müssen wir über Wahrheit nachdenken. Die Mélisande ist vielschichtig, komplex, mehrdeutig und ungreifbar wie die Wahrheit. Dagegen sucht Golaud, ihr Mann, ständig eine Wahrheit, die einfach ist. Und genau das führt in die Katastrophe. Ich denke, wir eröffnen mit einem zukunftweisenden Werk.
In der Uraufführung des Musiktheaters „Kein Licht.“ mit Texten von Elfriede Jelinek geht es um eine Welt nach dem Super-Gau. Regie führt Nicolas Stemann. Er wird das Schauspiel Zürich leiten, wenn Sie in Bochum als Intendant anfangen. Ist diese Arbeit der Beginn einer Kooperation?
Ich kann mir das vorstellen, wir haben auch darüber diskutiert. Nicolas Stemannund ich haben einen guten Draht zueinander.
Die Ruhrtriennale wartet unter anderem mit einer Trilogie von Perceval-Inszenierungen auf. Elf Stunden Zola an einem Tag. Braucht ein Festival solche Happenings?
Ja, das braucht ein Festival. Das kann aber ein Stadttheater ebenfalls gut brauchen. Ein Stadttheater muss auch ein klopfendes Herz haben.
Können Sie schon etwas zu Ihrem Stadttheater sagen, dem Schauspielhaus in Bochum? Sie haben schon angekündigt , dass Sie „keine neuen Rekordbesucherzahlen“ anstreben.
Es ist nicht so, dass ich weniger Zuschauer haben möchte. Auch wenn Anselm Weber seine Arbeit sehr gut macht – ich bin ein anderer Intendant, ich setze auf mehr Internationalität und ein intellektuelles Programm. Dass mir das so wichtig ist, kommt daher, dass ich aus sehr einfachen Verhältnissen stamme. Wenn ich als Kind Bach in der Kirche gehört habe, war das lange der erste und einzige Komponist, den ich kannte. Als ich entdeckte, was es sonst noch alles für schöne Musik und Literatur gibt – so ein Erlebnis prägt einen. So etwas muss man auch im Programm haben, die Möglichkeit, wirkliche Entdeckungen zu bieten. In Bochum ist das möglich. Das Haus hat eine riesige Tradition. Das Gebäude, seine Tradition, das hat für mich unglaublich viel Sexappeal.
In anderen Städten geben Besucherzahlen Anlass zu Diskussionen. In München etwa, wo die Kammerspiele seit Ihrem Weggang auf eine Besucherquote von 63 Prozent gesunken sind, oder Stuttgart, wo die Auslastung aktuell bei 71 Prozent liegt.
Es ist natürlich nicht gut, wenn kaum jemand mehr kommt. Man macht Theater zum Teil auch für Publikum.
Nur zum Teil?
Ja, zum Teil (lacht vergnügt).
Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie als Student in Bochum Inszenierungen von Peter Zadek und Claus Peymann bewundert haben. Warum?
Ich mochte, dass sie Vollgas gegeben haben auf der Bühne und ich völlig erschlagen aus dem Theater kam. Jetzt muss man wieder andere Sachen machen.
Bei Ihren Schauspielarbeiten der Ruhrtriennale, auch bei Theodor Storms „Schimmelreiter“ in Hamburg hatte man den Eindruck, dass Sie immer strenger in der Form werden. Man sah kaum jemals Requisiten, hörte auch wenig Fremdtext.
Als Holländer habe ich die Landschaftsgemälde aus dem 17. Jahrhundert und auch Mondrian in meinem Kopf. Flaches Land und viel Wasser, aber auch kahl und karg. Das ist ein Kennzeichen meiner Arbeit. Ich liebe diese Bildsprache sehr. Dabei verlasse ich mich auf die Schauspielerinnen und Schauspieler, deshalb brauche ich auch gute Schauspieler. Und ich habe eine gute Nase entwickelt, um sie zu finden. Ich möchte aber nicht auf einen Stil festgelegt werden. In „Cosmopolis“ von Don DeLillo, das ich zur Ruhrtriennale zeige, habe ich vier Schauspieler und fünf Musiker auf der Bühne. Mein Wunsch wäre es, dass man erst im Programmheft nachschauen muss, wer das inszeniert hat.
Konnten Sie in den drei Jahren ihrer Ruhrtriennalen-Intendanz auch die Konkurrenz im Ruhrgebiet beobachten? Die Städte liegen ja nah beieinander.
In München an den Kammerspielen habe ich zusammen mit Martin Kusej vom ResidenztheaterArbeiten gemacht. Ich entwickle mein Profil nicht aus der Konkurrenz, sondern aus Selbstvertrauen und einem Team, das ich schätze und liebe. Ständig mit der Konkurrenz zu rechnen – in meinem Alter sollte man das nicht tun.
2018 werden Sie 72 Jahre alt. Warum übernehmen Sie wieder ein Haus, wo Sie doch überall arbeiten könnten?
Ich arbeite genau da, wo ich möchte. In einer Gegend, die ich sehr gut kenne, im Ruhrgebiet. Es ist ein interessantes Gebiet, es hat sich über 150 Jahre unglaublich entwickelt, die Industrialisierung mitgemacht, und das ist jetzt alles vorbei. Aber ich kann mir vorstellen, dass gerade hier etwas Neues, eine neue Welt entsteht. Dieser Wandel geht durch die ganzen sozialen Schichten. Wenn ich Soziologe wäre, würde ich mich ins Ruhrgebiet setzen.
Während Ihre letzte Ruhrtriennale stattfindet, gibt es in Berlin mit dem Berliner Ensemble und der Volksbühne zwei Neustarts. Vor allem der Volksbühnenchef Chris Dercon wird schon vor dem Start heftig kritisiert. Aus der Distanz - aus dem tiefsten Westen des Ruhrgebiets und der Niederlande, wo Sie leben: Was halten Sie davon?
Ich würde sagen, lasst ihn erst mal machen. Aber jedes Wort, das von der neuen Leitung kommt, wird auf der Goldwaage gewogen. Im Holländischen sagt man: Eine Katze, die in die Ecke gedrängt wird, macht unerwartete Sprünge.

Zur Person:

Johans Simons wurde 1946 in den Niederlanden geboren. 1982 gründete er das Regiotheater, das sich 1985 mit einem anderen Ensemble zur Theatergroep Hollandia zusammenschließt. 2001 wird daraus das ZT Hollandia. 2002 inszeniert Simons erstmals in Deutschland: Grabbes „Hannibal“ am Stuttgarter Staatsschauspiel unter Friedrich Schirmers Intendanz. Von 2015-2010 war er Intendant des Nationaltheaters Gent in Belgien, 2010-2015 leitete er die Münchner Kammerspiele. 2013 wurden die Münchner Kammerspiele in einer Umfrage von „Theater heute“ zum Theater des Jahres gewählt. 2014 erhielt Simons den Theaterpreis Berlin und den Deutschen Theaterpreis Der Faust. 2015-2017 leitet er die Ruhrtriennale. Zur Saison 2018/2019 wird er Intendant des Schauspielhauses Bochum.

Zur Ruhrtriennale:

An diesem Freitag beginnt die Ruhrtriennale. 700 Künstler aus 30 Ländern zeigen bei dem Festival in verschiedenen Spielstätten im Ruhrgebiet ihre Arbeiten – von Theater über Oper und Ballett bis zu Performances. 26 Eigen- und Koproduktionen, 21 Uraufführungen sowie Neuinszenierungen, Deutschlandpremieren und Installationen stehen auf dem Programm.