Von wegen Placebo-Politik: dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ist es mit dem am Donnerstag beginnenden Runden Tisch gegen Saufgelage ernst. Ärger mit der eigenen Parteijugend nimmt er dafür in Kauf.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Stuttgart - So haben die Grünen ihren Ministerpräsidenten noch nicht oft erlebt: als einen Chefpolitiker, der sich nicht dem Mehrheitswillen der eigenen Partei beugt, sondern ihn zu überwinden versucht. Es geht um ungebremste Saufgelage in den Innenstädten, um täglich angepöbelte Polizisten, wie die Gewerkschaft der Polizei beklagt, und „voll gekotzte Vorgärten“, wie der grüne Tübinger OB Boris Palmer schimpfte. Dafür bekam Palmer den Applaus vieler Kollegen in den Rathäusern des Landes.

 

Beim Koalitionspartner SPD haben vor allem die Jusos Widerstand gegen jeden Versuch angekündigt, das Polizeirecht so zu ändern, dass Betrunkene auf offener Straße einen Platzverweis durch die Polizei erhalten können. Gleichzeitig musste sich Winfried Kretschmann auch aus den eigenen Reihen raten lassen, doch bitte einmal im Koalitionsvertrag nachzulesen.

Dort ist unter dem Rubrum „Suchtpolitik“ zwar festgehalten, dass man einen „besonderen Schwerpunkt der Prävention beim Alkohol- und Tabakkonsum“ setze, aber weiter heißt es: „Wir dringen auf die Einhaltung und Kontrolle der Regeln zur Abgabe alkoholischer Getränke und wollen den bestehenden rechtlichen Rahmen ausschöpfen, um Brennpunkte zu entspannen und die Weitergabe alkoholischer Getränke an Jugendliche zu erschweren.“

Ein „persönliches Anliegen“

Anders ausgedrückt: Sanktionsverschärfungen gegenüber saufenden Jugendlichen kommen nicht infrage. Und damit zeichnete sich bisher auch keine parlamentarische Mehrheit für eine Änderung des Polizeigesetzes ab, wie es 2009 der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim als Grundlage für ein Einschreiten durch die Kommunen forderte. Der VGH hatte der Klage eines Freiburger Jura-Doktoranden recht gegeben, der sich gegen das an Wochenenden geltende nächtliche Alkoholverbot im Kneipenviertel Bermudadreieck gewehrt hatte. So ein Verbot könne keine Stadt erlassen, das sei Sache der Landesgesetzgebung, stellten die VGH-Richter fest.

Die Einberufung zum Runden Tisch in Stuttgart mit dem Titel „Lebenswerter Raum“, kaum dass die Winterpause vorüber war, schien denn einen beleidigten Zug zu tragen. Kretschmanns Betonung, der Kampf gegen den Alkoholmissbrauch in den Innenstädten sei ihm ein „persönliches Anliegen“, klang, als könne er die Niederlage nicht eingestehen. Er kann es auch tatsächlich nicht; nicht diesmal. Es treibt ihn dabei mehr als die eigene Moralität: der versammelte Zorn der Oberbürgermeister, die alarmierenden Erfahrungsberichte von Polizeipraktikern, die blanken Zahlen der Kriminalstatistik – auch der Rückhalt durch den SPD-Innenminister Reinhold Gall, der ebenfalls gerne das Polizeigesetz verschärfen würde.

Jeden Tag, sagt der für die Polizei zuständige Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Nikolaos Sakellariou, würden neun Polizisten im Land im Dienst verletzt. Rüdiger Seidenspinner, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), präsentierte vor wenigen Monaten eindeutige Zahlen von 2011. Damals seien 284 000 Verdächtige ermittelt worden, die Straftaten unter Alkoholeinfluss begangen hatten. Zu 32 Prozent aller Gewaltdelikte sei es unter Alkoholeinfluss gekommen. Nicht zählbar seien die vielen „Beleidigungen und Anpöbelungen“, die sich Streifenbeamte allnächtlich anhören müssten.

Platzverbote bis zu einem Jahr

Die GdP sitzt mit am Runden Tisch, ebenso der Sprecher des Städtetags, Stefan Gläser, durch den die Chefs der großen Rathäuser vertreten werden. „Natürlich ist es unsere Hoffnung, dass was dabei rüberkommt“, sagte er im Vorfeld. Die Weigerung der Parteijugend sowohl bei den Grünen als auch bei der SPD, ein novelliertes Polizeigesetz mitzutragen, werde „von keinem Oberbürgermeister verstanden“, betonte Gläser. Ideologische Betrachtungen dürften nicht dem Bemühen entgegenstehen, „Menschen, die in historischen Altstädten leben, zu schützen“. Wer glaube, dem Komasaufen an den Wochenenden in den Innenstädten mit vermehrten Präventionsangeboten begegnen zu können, streiche aus seiner Sicht „weiße Salbe“ auf das Problem.

Wie entschlossen Kretschmann ist, den Runden Tisch zum Ausgangspunkt einer neuen Gesetzesinitiative zu machen, zeigt der jetzt bekannt gewordene Änderungsentwurf. Demnach soll dem bisher schon gesetzlich verankerten Platzverweis ein weiter gehendes Platzverbot an die Seite gestellt werden: Dieses könnte einzelnen Betrunkenen für die Dauer von bis zu einem Jahr erteilt werden.

Vor allem die ebenfalls eingeladenen Sozial- und Rechtswissenschaftler haben heute Gelegenheit, sehr konkret Stellung zu beziehen. Unter ihnen ist Christian Heise, Geschäftsführer des Landesverbandes für Prävention und Rehabilitation. Aus Berlin, von der dortigen Hochschule für Wirtschaft und Recht, reisen der Fachbereichsleiter für Rechtspflege, Peter Ries, sowie der Staats- und Verwaltungsrechtler Clemens Arzt an. Arzt hat schon andere Landesregierungen in Sachen Alkoholverbot beraten. So warnte er beispielsweise Anfang 2012 den niedersächsischen Innenausschuss vor schwach begründeten Eingriffen in die Grundrechte, die später von den Gerichten kassiert würden.

Via Twitter verspottet

Als stärkster Widerpart gegen Winfried Kretschmanns Vorhaben gilt Roland Hefendehl, Leiter des Instituts für Kriminologie an der Uni Freiburg. Im Streit über das Freiburger Kneipenviertel Bermudadreieck hatte Hefendehl die von der Polizei vorgelegte Datenbasis in einem Interview als „katastrophal“ bezeichnet; mit der Kriminalstatistik sei dann auch noch „manipulativ umgegangen worden“. Via Twitter wurde Hefendehl dafür dennoch vor allem von Jusos verspottet.

Inzwischen hat sich schon ein vielstimmiger Protestchor gegen den grünen Gesetzesvorschlag erhoben. Der Ministerpräsident aber, sagt sein Sprecher, „lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen“. Diejenigen, die alle bisherigen Vorschläge ablehnten, sollten dazu übergehen, bessere zu liefern.

Baden-Württemberg in der Vorreiterrolle

Flatrate-Partys Im Juni 2007 hat Baden-Württemberg als erstes Bundesland ein Verbot sogenannter Flatrate-Partys durchgesetzt. Der Hebel war das Gaststättengesetz, das die Abgabe von Alkoholika an Betrunkene verbietet. Wirten drohte der Lizenzentzug.

Tankstellen Mit dem Alkoholverkaufsverbot nach 22 Uhr an Tankstellen, das auch für Kioskbetreiber und Supermärkte gilt, war das Land im Jahr 2010 wieder Vorreiter. Laut Innenministerium ging seither die Zahl nächtlicher Straftaten unter Alkoholeinfluss zurück.

Strenge Beim hiesigen Städtetag viel beachtet ist das gerichtsfeste Alkoholverbot, das seit 2012 auf der Partymeile der niedersächsischen Studentenhochburg Göttingen gilt. Anders als im Fall Freiburg wies das Oberverwaltungsgericht eine Klage gegen das Verbot ab