Düstere Aussichten unter heiterem Himmel: Der Bundespräsident ist zur Eröffnung des weltweit größten Branchentreffs nach Frankfurt gekommen. Die Zeiten sind ernst. Doch nicht jede Verwandlung muss gleich das Ende bedeuten.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Ein roter Teppich verläuft quer über die Agora, den großen Platz, an dem alle Wege der stets wachsenden Messestadt zusammenlaufen. Die Agora war im antiken Griechenland der Ort, wo sich das Gemeinwesen über sich selbst verständigt hat. In Frankfurt hat man zu diesem Zweck einen temporären Pavillon errichtet, der so aussieht, als wären fliegende Untertassen in Wirklichkeit fliegende Schneckenhäuser, und eines davon hätte einen Zwischenhalt eingelegt, weil die Zeiten zu stürmisch sind, um einfach weiterzufliegen. Und genau hier hinein führt der rote Teppich. Denn der deutsche Bundespräsident hat sich angemeldet, um vor seiner Weiterreise nach Griechenland zu Beginn der Buchmesse über die Frage zu diskutieren, wie die Freiheit in stürmischen Zeiten verteidigt werden kann.

 

Durch Europa wehe eine neue Faszination des Autoritären, stellte das deutsche Staatsoberhaupt im zugigen Innern fest. Und weil in diesem Jahr nicht nur die Buchmesse, sondern auch die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen ihren siebzigsten Geburtstag feiert, erinnert Frank-Walter Steinmeier daran, wie wenig selbstverständlich so selbstverständliche Sätze geworden sind wie „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“.

Mit Beruhigungsmittel auf dem Podium

Unter dem buchgemäßen Motto „On The Same Page“, „auf der gleichen Seite“, beschwört anlässlich des Jubiläums eine Kampagne des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels das Bekenntnis zu den universalen Grundsätzen. Besorgt zeigt sich nicht nur der Bundespräsident über den sich abzeichnenden Seitenwechsel von Ländern wie der Türkei, die zu den Unterzeichnern der Charta gehören: über die Gängelung des freien Worts, die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Verletzung von Grundrechten. Auf einem der vielen Podien dieser unter heiterstem Himmel von düstersten Aussichten über den Branchenrand hinaus geprägten Messe präsentiert die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan ihre Beruhigungsmittel, ohne die sie den permanenten Schikanen der türkischen Justiz nicht gewachsen wäre.

Medikamentöse Hilfe bräuchte auch ihr deutscher Kollege Günter Wallraff, würde er alles an sich heranlassen, was im Internet über ihn zu lesen sei. „Da wird man doch depressiv“, sagt er bei einer Diskussion über das Ergebnis einer Studie, wonach auch in Deutschland eine wachsende Zahl von Autoren eingeschüchtert durch Hetze zur Selbstzensur neige. Allerdings müsse man auch nicht jeden Mist lesen, wendet sich Wallraff gegen diesen Befund. „In Deutschland ist man etwas wehleidig, in anderen Ländern ist es doch viel schlimmer.“

Auch der Bundespräsident hatte daran appelliert, über den unheilvollen Vorzeichen nicht die herrschende Normalität aus den Augen zu verlieren: „Das Bild, das die Medien abbilden, stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein. Es entsteht der falsche Eindruck, als sei das Land schon von denen beherrscht, die die Demokratie zu Fall bringen wollen.“

Rechtsdrehende Tiefenbohrungen

Gerade hat man beschlossen, die in eine wenig frequentierte Sackgasse ausquartierten rechten Verlage links liegen zu lassen, um ihnen entsprechend der präsidialen Empfehlung keine überproportionale Bedeutung zuzubilligen, da laufen sie einem schon unerwartet über den Weg. In nächster Nähe der linken Wochenzeitung „taz“ tummelt sich triumphierend der Rädelsführer rechtsintellektueller Mobilmachung, Götz Kubitschek. Sein Antaios-Verlag hätte nach dem durchaus anfechtbaren Ausgliederungskonzept der Messeleitung in die rechte Ecke gehört. Doch am Eröffnungstag erklärte er kurzerhand, Antaios an den Loci-Verlag verkauft zu haben. Dieser war von dem laut eigener Aussage auf Tiefenbohrungen spezialisierten Zahnarzt und baden-württembergischen AfD-Funktionär Thomas Veigel erst im Juni gegründet worden. Nun werden dort unter neuem Dach die alten Sachen feilgeboten.

Den fortschreitenden Leserschwund muss man nicht überall gleichermaßen beklagenswert finden. So wenig Selbstzensur darf sein. Mit allen Mittel versuchen die Verlage sonst, auf eine ihrer Zeit gemäße Weise attraktiv zu bleiben. Manche Bereiche gleichen eher einer Technologie- als einer Buchmesse. An der Schnittstelle zwischen analoger und virtueller Realität werden neue Formen des „Storytelling“ vorgeführt. Mit einer entsprechenden Brille verwandelt man sich in Kafkas Gregor Samsa und kann sich traurig im Spiegel mit seinen Käferbeinen zuwinken. Und wer vergessen hat, was es mit diesem Gregor auf sich hat, findet vielleicht in der Ideentanke der MFG Baden-Württemberg den geeigneten Stoff, wo sogenannte Soundblurbs, Klappentexte zum Hören, Lust auf das entsprechende Werk machen sollen.

Wo das Verlangen nach dem klassischen Buch nachlässt, blüht das Geschäftsmodell von Books on Demand, Büchern, die in digitaler Form existieren und nur auf Nachfrage gedruckt werden. Für 19 Euro kann bei BoD jeder zum eigenen Verleger werden. Von Jahr zu Jahr wächst der Selfpublishing-Bereich. Lesen ist out, aber schreiben will jeder. Immer mehr Autoren können in diesem Sektor inzwischen von ihrer Arbeit leben, weil sie neue Kanäle wie Youtube und soziale Medien nutzen, um im engsten Austausch mit ihren künftigen Lesern zu bleiben.

Weltpuff Berlin

Auf eher klassische Formen der Lusterzeugung setzt der Rowohlt-Verlag. Wo Serien wie derzeit etwa „Babylon Berlin“ der Literatur die Schau zu stehlen drohen, hat das Hamburger Haus in einer konspirativen Veranstaltung vor geladenen Gästen die Veröffentlichung eines im Marbacher Literaturarchiv aufgefundenen Manuskripts des Sprachpuristen Rudolf Borchardt vorgestellt. Unter dem schönen Namen „Weltpuff Berlin“ verbergen sich die Bekenntnisse eines Bummelstudenten an der Schwelle zum letzten Jahrhundert. Es findet sich darin, wie es in der schwülen Verlagsankündigung heißt, „eine Fülle erotischer und sexueller Begegnungen mit dem Dienstpersonal, Masseusen, Ladenmädchen und Damen der besten Gesellschaft“. So viel zu Metoo.

Und damit wäre man schließlich bei einem der sonderbarsten Stände angekommen. Seit Jahren behauptet sich der kleine Goliath-Verlag mit Titeln wie „Dirty Girl Collection“ oder „Natural & Naked“ gegen die Verflüchtigung der Erotik in digitalen Sphären. Vor dem auf Hüllenlosigkeit ausgerichteten Verlagsprogramm postieren jedes Jahr wie Wächterinnen zwei selbstbewusste Ladenmädchen, wie man sie bei Rowohlt wohl nennen würde. Doch nie sieht man unter den Vorbeiflanierenden jemand, der es wagen würde, jenes Reich zu betreten, das gleichzeitig mit allen Mitteln seinen Voyeurismus reizt.

Besser, als es jede virtuelle Realität vermag, findet man sich plötzlich inmitten Kafkas Türhüter-Parabel wieder, in der ein Mann sein Leben lang vergeblich vor einem Tor um Einlass begehrt und schließlich bei seinem Tod erfahren muss, dass dieser Eingang nur für ihn bestimmt gewesen sei. Solange der Goliath-Verlag überlebt, ist die Sache des Buches noch nicht gestorben.