Korrespondenten: Inna Hartwich
Einige Kommentatoren im Land werfen Ihnen Hass auf Russland vor, empfehlen Ihnen wegen solcher Kritik, nicht mehr auf Russisch zu schreiben. Wie groß ist der öffentliche Druck auf Sie?
Ich war ja nie im Staatsdienst beschäftigt. Außer bei einem kurzen, dreijährigen Intermezzo in einem jüdischen Theater, wobei man das nicht wirklich staatlich nennen konnte. Meine Unabhängigkeit war mir immer heilig. Ich habe den Staat nie um etwas gebeten, der Staat hat mir auch nie etwas gegeben. Ich will auch jetzt keine Unannehmlichkeiten mit dem Staat haben. Wir leben beide nebeneinander her und tun so, als ob wir einander nicht bemerken.
Sie waren zehn, als Stalin starb, Ihre Großväter waren beide im Gulag. Wie bewerten Sie die gegenwärtigen Versuche der russischen Staatsführung, Stalin zu rehabilitieren?
Das ist eine schreckliche Perspektive. Ein Schritt zurück, dabei aber nicht in die Zeit der Sowjetunion, die man nicht mehr herstellen kann, sondern in so eine Art neue Form, die äußerst abscheuliche Seiten des Stalinismus enthalten wird. Ich kann mich sehr gut an Stalins Todestag erinnern. Man hat uns in der Schulaula versammelt. Alle waren verheult, Schüler, Lehrer, der Direktor. Nur ich weinte nicht. Es ist doch nicht der eigene Großvater oder die eigene Großmutter, dachte ich, warum weinen sie denn? Ich stand da und fühlte mich unbehaglich. Ich wollte ja dieses allgemeine Gefühl teilen und konnte es nicht.
Wie hat diese Empfindung Sie geprägt?
Dieses Gefühl des Herausgerissenseins aus der Gemeinschaft habe ich sehr früh kennengelernt, diese Erfahrung, in der Minderheit zu sein. Den Schülern von heute, die sehr bestrebt sind, in der Mehrheit zu leben, weil das natürlich sehr viel bequemer ist, sage ich oft: Habt keine Angst, in der Minderheit zu sein, keine Angst, „Nein“ zu sagen. Die Welt entwickelt sich nur dank einiger seltsamer Menschen, die immer in der Minderheit sind.
In den Protesttagen 2011/2012 gingen Sie auf die Straße, ergriffen das Wort gegen das Putin-Regime. Was ist aus diesen „Minderheiten“-Menschen, aus ihren Wünschen von damals geworden?
Manche sind emigriert, andere sind des Kampfes müde. Die Enttäuschung ist riesig, denn wir hatten in der Zeit das Gefühl, etwas verändern zu können. Leider existiert in unserem Land keine Rückkoppelung zwischen der Gesellschaft und der Staatsführung. Damals dachten wir, es sei der Moment gekommen, wo diese Rückkoppelung möglich wäre. Jetzt aber ist das Gegenteil eingetreten. Jeder Anflug von Engagement wird sofort zunichtegemacht. Das Signal der Macht: „Lehnt euch nicht zu weit aus dem Fenster.“ In unserem Land herrschen wieder Angst, Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit.