In ihrem neuen Buch macht sich die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja Sorgen: um sich selbst, vor allem aber um ihr Land. Ein Gespräch über Krebs, über „heiligen Müll“ und die politische Entwicklung unter Putin.

Korrespondenten: Inna Hartwich
Berlin - Bloß nicht über die russische Politik sprechen, lässt Ljudmila Ulitzkaja ausrichten. Das sei nicht ihr Metier, sagt die Grande Dame der zeitgenössischen russischen Literatur, bevor sie Platz nimmt in einem fast leeren Büro im Berliner Hanser Verlag. Sie isst noch schnell einen Keks und redet – natürlich auch über die russische Politik.
Frau Ulitzkaja, in Ihrem neuen Buch „Die Kehrseite des Himmels“ über Ihren Alltag, über Freundschaften, über Ihr Leben, gibt es nur Sie, Ihre Gedanken und Gefühle. Warum ein so persönliches Werk?
Es gab ein besonderes Ereignis in meinem Leben: meine Krebserkrankung. Da fast alle in meiner Familie an Krebs gestorben waren, dachte ich, meine Stunde sei gekommen. Also fing ich an, das Leben Revue passieren zu lassen. Nun sind fünf Jahre vergangen, ich bin gesund. Ich hatte gar nicht geplant, einen noch so großen, so glücklichen Happen vom Leben abzubekommen. Es ist also mein letztes Buch geworden, eine Zusammenfassung meines Lebens. Alles, was danach entstanden ist und entsteht, sind sozusagen meine vorletzten Werke.
In der russischen Version heißen Ihre Aufzeichnungen „Heiliger Müll“. Was ist das für ein Müll?
Ich bin eine große Anhängerin der materiellen Welt. Dinge wie zum Beispiel das Gläschen meiner Großmutter, in dem sie ihre Haarnadeln aufbewahrte, oder die zusammengeklebte, henkellose Tasse meines Urgroßvaters, wo er die Zahnrädchen für Uhren lagerte, waren für mich immer sehr wertvoll. Dann kam der Tag, an dem ich verstand, dass diese Fülle an unbrauchbarem Kram mich ermüdet. Bei meinem siebten Umzug habe ich alle diese Reliquien in eine Kiste gepackt und sie auf den Müll gebracht. Das Erstaunliche ist, dass ich sie dann doch nicht wegwerfen konnte. Sie landeten zwar im Abfall, aber sie blieben in meinem Gedächtnis. Es ist unmöglich, sich davon loszureißen. Jeder hat einen solchen wertvollen Müll, denn er formt die Persönlichkeit.
Sie erkunden in Ihren Büchern gern die Abgründe der russischen Gesellschaft. Von der Strafkolonie für Jugendliche bis zu einem Platz, wo zu Sowjetzeiten Menschen erschossen wurden. In was für einem Land leben Sie eigentlich?
Es sind viele Länder. Es gibt so viele Wendungen, so viele Sichtweisen. Mich haben immer die Ränder dieser „Länder“ interessiert. Die Menschen im Schatten, die kleinen Leute. Sie fallen den Mächtigen kaum auf. Für mich aber sind das die interessanteren Menschen, weil sie den Versuchungen der Macht trotzen. Sie sind innerlich frei und unabhängig. Seit meiner ersten Erzählung schreibe ich über diese kleinen Leute, was ja nicht neu ist in der russischen Literatur. Schon Gogol und Dostojewski beschäftigten sich mit ihnen. Noch heute gibt es solche „Akaki Akakijewitschs“ in unserem Land.
Einem Land, das Europa Lebwohl sagt, wie es in einem Ihrer Essays heißt.
Das ist historisch zu sehen: Mal nähert sich Russland Europa an, dann entfernt es sich wieder davon. Es birgt, vor allem wenn es sich von Europa abwendet, eine große Gefahr in sich. Heute heißt die Suche nach dieser östlichen Identität „Russische Welt“. Man kultiviert sie mit Hilfe des Nationalismus, der sogenannten Selbstvergötterung. Der russische Philosoph Wladimir Solowjow schrieb im 19. Jahrhundert bereits, von der Selbsterniedrigung gehe es zur Selbstachtung bis hin zur Selbstüberhöhung. Diese Selbstüberhöhung, so meinte Solowjow, führe zum Tod der nationalen Kultur. Seine damaligen Worte beschreiben recht genau die heutige Situation in Russland. Ich finde das wahnsinnig erschreckend, denn es entsteht eine in jeglicher Hinsicht gefährliche Isolation. Ich habe eine so dunkle Vorstellung von der Zukunft meines Landes, dass ich es gar nicht wagen will, sie hier auszubreiten. Geht man von der Logik dessen aus, was heute bei uns passiert, kann man nichts Gutes erwarten.