Der russische Präsident weiß die öffentliche Aufmerksamkeit durch die Weltmeisterschaft zu nutzen – allerdings anders als erwartet.

Moskau - Es läuft gut für Wladimir Putin. „Unser Hauptziel als Gastgeberland ist es, diese Weltmeisterschaft gut zu organisieren und sie zu einem echten Festival für Millionen von Fußballfans in aller Welt zu machen“, hatte der russische Präsident im Vorfeld der WM erklärt. Dieses Hauptziel kann als erreicht gelten. Mehr noch: Die Sbornaja, die Mannschaft des Gastgeberlands, hat sensationell das Viertelfinale erreicht. Der nächste Gegner Kroatien ist zwar stark, aber nicht unschlagbar, und so sind es keineswegs nur die Fans draußen in aller Welt, die feiern. Durch Russland selbst weht ein Hauch von Sommermärchen.

 

Diese Entwicklung hätten zu Beginn der Fußball-WM selbst die kühnsten Optimisten kaum für möglich gehalten, und dies keineswegs nur in sportlicher Hinsicht. Der Kremlchef hatte noch kurz vor dem Eröffnungsspiel in Moskau eine Warnung in Richtung Kiew gesandt. Sollte die ukrainische Armee das Sportspektakel nutzen, um Stellungen prorussischer Separatisten im umkämpften Donbass anzugreifen, dann werde das „schwere Folgen für die gesamte ukrainische Staatlichkeit haben“.

Jeder, der die jüngste Geschichte seit der Maidan-Revolution 2014 verfolgt hat, konnte das nur als offene Kriegsdrohung verstehen. Doch es passierte in der Ostukraine in der Folge nichts Außergewöhnliches, was allerdings schlimm genug ist: Die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) meldeten zuletzt knapp 1000 Verstöße gegen den geltenden Waffenstillstand täglich. So war es aber auch im Mai. So ist es seit Langem in dem leidgeprüften Bürgerkriegsgebiet. Kein Grund für einen WM-Alarm also, und das gilt für die gesamte Sicherheitslage. Weder suchten die gefürchteten russischen Hooligans die offene Schlacht mit ausländischen Fangruppen, noch gab es terroristische Anschläge oder auch nur einen spürbaren Anstieg der Alltagskriminalität.

Perfekte Bilder von moderne Stadien und friedlichen Fans

Das hat natürlich in erster Linie mit der Allgegenwart von Polizei und Sicherheitsdiensten zu tun, vor allem aber mit einer effektiven Präventionsarbeit. In Hooligankreisen machten vor Beginn der WM Berichte von Hausbesuchen durch Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB die Runde. „Wir sind bereit, überall und jederzeit hart gegen Rechtsbrecher vorzugehen“, hatte das Innenministerium angekündigt. Putin persönlich hatte per Dekret das ohnehin restriktive Demonstrationsrecht verschärft. Aber selbst diese Maßnahmen haben bislang kaum einen negativen Einfluss auf die schönen Bilder, die sich der Kreml erhofft hatte und die nun tatsächlich um die Welt gehen. Sie zeigen außer fröhlich und friedlich feiernden Fans auch zwölf hochmoderne Stadien, teils vor prächtiger Stadtkulisse, wie an der Newa in Sankt Petersburg.

Zeit für unpopuläre innenpolitische Entscheidungen

Das Wissen darum, dass die Um- und Neubauten mehr als zehn Milliarden Euro verschlungen haben, nicht zuletzt Steuergeld, und dass mindestens jeder zehnte Euro davon in dunklen Kanälen versickert ist, tut der guten Stimmung im Land kaum einen Abbruch. Derweil nutzt der Kreml die WM-Zeit innenpolitisch geschickt, um unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen, vor allem eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und des Renteneintrittsalters. Die Proteste dagegen hielten sich bislang in Grenzen. Die Popularitätswerte des im Frühjahr wiedergewählten Putin sind unverändert hoch (rund 70 Prozent Zustimmung). In dieser Lage setzt der Präsident auf betontes Understatement. Anders als von Kritikern erwartet, mied Putin die ganz große WM-Bühne. Nur beim 5:0 der Russen im Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien war er persönlich im Stadion.

Im Kreml brennt noch Licht, lautet in Russland ein geflügeltes Wort aus der Stalin-Zeit, als sich die Staats- und Parteispitze und im weitesten Sinne sogar das gesamte Sowjetimperium an den ausufernden Arbeitszeiten des Alleinherrschers auszurichten hatten. Putin dagegen suggeriert, dass das Volk ruhig schlafen kann, wenn im Kreml noch Licht brennt und der Präsident für das Wohlergehen aller arbeitet. Sogar während eines WM-Märchens. Und so wird man ihn womöglich erst wieder im Finale im Stadion sehen – im besten Fall mit russischer Beteiligung.

Sportliche Erfolge stehen für nationale Stärke

Im besten Fall? Wer Putins bald 20-jährige Herrschaftszeit verfolgt hat, weiß, wie viel Wert der Dauerpräsident auf nationale Stärke legt, die sich durch sportliche Erfolge eindrücklich demonstrieren lässt. Davon zeugen nicht zuletzt die Dopingskandale der vergangenen Jahre, die Russland den Ruf einbrachten, die eigenen Sportler systematisch und staatlich organisiert mit unerlaubten Präparaten und medizinischer „Hilfe“ zu fördern. Dennoch ist bei dieser WM inzwischen so vieles denkbar, dass der „beste Fall“ einer russischen Finalteilnahme für Putin sogar zum Problemfall werden könnte.

Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sportliche Erfolge gesellschaftliche Entwicklungen in Gang setzen oder forcieren. Das in Deutschland berühmteste Beispiel ist das Fußball-Wunder von Bern 1954, als die Mannschaft von Sepp Herberger sensationell Weltmeister wurde. Faktisch endete damit die Nachkriegszeit. Das sportliche Wunder nahm das Wirtschaftswunder vorweg. Aber auch das „Sommermärchen“ von 2006 markierte eine Zäsur: Das wiedervereinte Deutschland fand zu sich selbst und zu einem natürlichen Patriotismus. Was also könnte in Russland passieren, wenn die Sbornaja noch für weitere Sensationen und eine Aufbruchstimmung sorgt, die dem Kontrollbedürfnis des Kremls zuwiderläuft? Die Antwort kann nur lauten: Putin wäre nicht Putin, wenn er nicht auch auf diesen Fall vorbereitet wäre.