Antike Uhren sind wieder begehrt. Was ist an ihnen so faszinierend? Ein Stuttgarter Uhrmacher gibt sein Wissen an einen jungen russischen Kollegen weiter. Hinter der Zusammenarbeit steckt eine ungewöhnliche Geschichte.

Stuttgart - Irgendwann ist sie stehengeblieben. Ihr Äußeres hat nicht darauf hingedeutet, sie ist eine Schönheit: Die winzige Intarsien sind unversehrt, auf ihrer Rückseite sind zwei Schwäne in einem Gewässer zu sehen, eine perfektionistische Arbeit in Emaille. Die Taschenuhr, die Steffen Cornehl auf einem weißen Blatt Papier vor sich abgelegt hat, ist vielleicht so groß wie ein Eurostück. Cornehl ist Uhrmacher, das Schmuckstück auf seinem Tisch besteht aus rund 150 Einzelteilen, ein kleines mechanisches Wunderwerk. Der 40-Jährige poliert die Zapfen der Uhr, er entfernt Schmutz und Ölreste, er richtet die Spirale.

 

Dabei sieht ihm ein anderer Uhrmacher zu. Nikolaj Zinatullin blickt ihm über die Schulter, zwei Wochen lang lebt und arbeitet der 27-Jährige in Stuttgart bei Steffen Cornehl. Zinatullin stammt aus St. Petersburg, wo er sein Handwerk in einem der berühmtesten Museen der Welt lernt: der Eremitage. Derzeit reist Zinatullin, dessen Vater schon Uhren restauriert hat, durch halb Deutschland – von einem Uhrmacher zum nächsten, um noch mehr über antike Uhren zu lernen. „Die Reise ist für mich absolutes Neuland“, erzählt Zinatullin, „ich war noch nie im Ausland.“

350 Exemplare stehen im Museum still

Dass die beiden Uhrmacher zusammengefunden haben, ist einem Zufall zu verdanken – in den 1990er-Jahren reiste ein deutscher Uhrmacher nach St. Petersburg, wo er in einem Museum einen fast vergessenen Schatz entdeckte: Uhren aus der Zarenzeit, mindestens 350 Exemplare – doch alle Uhren standen still. Der deutsche Tourist fragte einen Mitarbeiter des Museums: „Warum stehen alle Werke still?“ Die Antwort war simpel: Es gab niemand, der sie reparieren konnte. Die Episode war der Startschuss für eine ungewöhnliche deutsch-russische Zusammenarbeit: der Uhrmacher fragte Kollegen, ob sie die Uhren nicht in Gang setzen wollten.

Viele wollten, auch Steffen Cornehl ist seit 2002 dabei. „Inzwischen fahre ich mehrmals im Jahr nach St. Petersburg“, erzählt er. „Mittlerweile reise ich nicht mehr nur wegen der Uhren nach Russland, ich habe dort auch neue Freunde gefunden.“ Seinem jungen Kollegen von der Eremitage zeigt er an diesem Morgen in seiner Stuttgarter Werkstatt eine ungewöhnliche Arbeit: Auf einem Tisch legt Cornehl ein Gemälde ab, das eine Jagdszene zeigt. Die Leinwand des Bildes ist beschädigt, aber das interessiert den Uhrmacher nur am Rande: In einem Turm auf dem Gemälde hat der Künstler eine funktionsfähige Uhr installiert – hinter der Leinwand befindet sich zudem eine alte Spieluhr, die zur vollen Stunde eine Melodie erklingen lässt.

Antike und mechanische Uhren erleben eine Renaissance

Doch die Spiel- und die Turmuhr funktionieren nicht mehr – Steffen Cornehl zeigt Nikolaj Zinatullin seine Werkzeuge, er führt ihn einige Treppenstufen hinab in sein Reich der Präzision. In einem Mäppchen lagern Bohrköpfe verschiedener Größe, Cornehl zeigt Schleifsteine und Zangen. Nachdenklich betrachtet der junge Russe die Werkstatt: „Unser Handwerk ist in den Grundzügen gleich, aber die Werkzeuge sind teilweise verschieden.“ Für die beiden Uhrmacher ist das Praktikum eine wechselseitige Erweiterung des Horizonts. Dass sich Russen und Deutsche im Zuge der politischen Konflikte voneinander entfernt hätten, kann Steffen Cornehl nicht erkennen. „Auf der persönlichen Ebene hat das alles keinen Einfluss“, erzählt er. „Wenn ich mal wieder in Russland bin, fällt mir schon auf, wie einseitig die Medien über die vermeintlichen Fehler des ukrainischen Parlaments berichten.“

Die Zeit ist unbestechlich. Sie ist über die Zaren hinweggegangen, über Stalin und Gorbatschow, auch Putin wird einmal Geschichte sein. Steffen Cornehl macht sich gerade daran, für die Messung der Zeit eine Form zu finden, die er noch nie gewagt hat. Er zeigt Nikolaj Zinatullin ein Einzelstück in seiner Werkstatt – es ist die erste Uhr, die Cornehl selbst gebaut hat, eine Handarbeit auf der Basis eines Schweizer Uhrwerks. Der Uhrmacher aus St. Petersburg ist beeindruckt von dem Unikat, er gehört zu einer neuen Generation junger Experten. „Die Leute denken immer, dass die Uhrmacherei ausstirbt“, erzählt Steffen Cornehl, „aber das stimmt nicht. In Zeiten der digitalen Smartwatches erleben antike und mechanische Uhren derzeit eine Renaissance.“ Bei ihnen ist die Technik noch nachvollziehbar und nicht in unsichtbaren digitalen Codes verborgen.

Nikolaj Zinatullin hört das gerne. Uhren sind seine Leidenschaft, ein Leben ohne sie kann er sich nicht vorstellen. Sie ticken ähnlich – der Uhrmacher aus Russland und der Uhrmacher aus dem Stuttgarter Osten.