Nach den zwei blutigen Anschlägen von Wolgograd könnte Russlands Präsident Putin wieder einmal zum großen Schlag gegen den Extremismus ausholen. Innenpolitisch und im Nordkaukasus droht ein rücksichtsloses Vorgehen gegen Andersdenkende.

Moskau - Auf eine Neujahrsfeier mit Sekt und Kaviar im trauten Kreis der Familie mussten die Chefs der Geheimdienste und hohe Chargen des Innenministeriums in Südrussland in diesem Jahr verzichten. Exakt um Mitternacht, als anderswo die Korken knallten, wurden sie von Wladimir Putin zur Krisensitzung in Sachen Extremismusbekämpfung zusammengetrommelt. Das Vorgehen der Terroristen, teilte der Kremlchef mit, sei „nicht hinnehmbar“ und „durch nichts gerechtfertigt“. Es müsse Konsequenzen haben.

 

Nach dem Doppelanschlag zu Wochenbeginn in Wolgograd , bei dem bisher insgesamt 34 Menschen starben und fast hundert verletzt wurden, gilt in ganz Südrussland die Warnstufe Gelb, die zweithöchste bei Terrorismusgefahr. Allein in Wolgograd rückten, was offiziell zunächst dementiert wurde, am Montag neben Spezialeinheiten für Extremismusbekämpfung auch Truppen des Innenministeriums ein, die eigentlich nur bei Unruhen zum Einsatz kommen sollen. Kritische Medien sprachen von bis zu 5000 Soldaten, darunter Scharfschützen, die notfalls ohne Anruf den Abzug am Gewehr betätigen dürfen.

Der Damm an der Wolga birgt hohe Risiken

Einwohner und regionale Machthaber fürchten neue Anschläge – vor allem auf den nahe gelegenen Damm, der die Wolga aufstaut. Bricht er, stehen die Millionenstadt und deren südliches Umland binnen Minuten unter Wasser.   Auch hatte die Regionalregierung die Bevölkerung gebeten, in der Neujahrsnacht auf Pyrotechnik zu verzichten, weil die Knallfrösche Panik auslösen könnten und auch angesichts der mehrtägigen Trauer unangemessen seien. Dieser Wunsch beeindruckte längst nicht alle Bürger. Mehr noch: Wichtigtuer und Witzbolde meldeten den Rechtsschutzorganen neue Anschläge, die sich jedoch rasch als frei erfunden herausstellten.

Die Toten von Wolgograd zwangen den Kremlchef sogar zu Korrekturen seiner Neujahrsbotschaft und störten die positive Bilanz für 2013 und den optimistischen Ausblick für 2014.  In der ersten Version, die das Staatsfernsehen für die am weitesten nordöstlich gelegenen Regionen ausstrahlte, wo die Zeit der Moskauer um bis zu neun Stunden voraus ist, fehlte das Thema komplett. Zwar redete sich Putins Pressechef mit „technischen Pannen“ heraus, aber ehemalige hohe Beamte, die nach dem Zerwürfnis mit Putin ins Lager der Opposition wechselten, vermuten knallharte Auseinandersetzungen in der unmittelbaren Umgebung des Staatschefs: Konservative hätten zu sowjetischem Krisenmanagement – somit zu Schweigen – geraten, Liberale zu offensiver Vorwärtsverteidigung.

Furcht vor innenpolitischen Daumenschrauben

Letzteres könnte Putin auch als Antrieb für neue innenpolitische Daumenschrauben werten, fürchten kritische Beobachter und ziehen Parallelen zum Herbst 2004. Nach dem Geiseldrama in der Schule von Beslan, bei dem mehr als 300 Menschen starben – die meisten waren Kinder – hatte Putin durch Verfassungsänderungen die Ernennung der bis dato direkt gewählten Verwaltungschefs der Regionen durch den Kreml durchgesetzt. Opposition und Zivilgesellschaft wurden durch eine Verschärfung von Partei- und  Vereinsgesetzgebung marginalisiert und der Druck auf unabhängige Medien verstärkt. Unvergessen ist auch die feindliche Übernahme des TV-Senders NTW durch den Staatskonzern Gazprom. Als Vorwand dienten Wirtschaftsstreitigkeiten, in Wahrheit war es ein Racheakt für eine ungeschminkte Berichterstattung über die Folgen der Geiselnahme, den Untergang des Atom-U-Boots Kursk und Moskaus zweiten Tschetschenienkrieg.

Die Rebellenrepublik Tschetschenien hatte sich 1991 von Moskau losgesagt, der damalige Präsident Boris Jelzin musste sie nach dem ersten Feldzug 1996 de facto in die Unabhängigkeit entlassen. Im Herbst 1999 nahm der gerade vom Geheimdienstchef zum Premier und damit zu Jelzins Nachfolger aufgestiegene Putin Anschläge auf Wohnhochhäuser in Moskau und anderen Großstädten mit Hunderten von Toten zum Vorwand für einen zweiten Tschetschenienkrieg. „Wir werden die Terroristen notfalls auf dem Lokus massakrieren“, tönte er damals. Nach den Anschlägen in Wolgograd drohte er, Russland werde „den Terrorismus gnadenlos bekämpfen“.  Der erste Schuss könnte schon bald nach den Spielen in Sotschi fallen. Nicht in Tschetschenien, das inzwischen mit umstrittenen Methoden befriedet wurde, wohl aber bei den Nachbarn im Nordkaukasus, wo radikale Islamisten Moskau zunehmend das Gesetz des Handelns aufzwingen.