Die Einnahme von Lyssytschansk zeigt: Russlands Truppen werden schwach und sind zu keinem operativen Angriff mehr fähig.

103 000 Einwohner zählte die ostukrainische Stadt Donezk 2014 gerade einmal noch. Kontinuierlich ist die Bevölkerungszahl des Ortes am Ufer des Siwerskyj Donez von mehr als 126 000 Menschen im Jahr 1989 gesunken. Als eine Ansiedlung hässlicher Betonklötze wird Lyssytschansk beschrieben, das seinen Reichtum einmal mit der Kohle machte, die in fünf Minen rund um die Stadt gewonnen wurde. Es war der erste Ort im Becken des mächtigen Don, an dem seit 1721 Kohle gefördert wurde. Als letzter Ort mit einer oft überhöhten Bedeutung im Regierungsbezirk Luhansk wurde das frühere Zechen-Zentrum jetzt von den Truppen der russischen 127. und der 150. Mechanisierten Schützendivisionen, ihren islamistischen, tschetschenischen Verbündeten sowie Söldnern der Wagner-Gruppe erobert.

 

Was bedeutet der Fall von Lyssytschansk für die russischen Invasoren?

Nach Beginn der aktuellen russischen Großoffensive auf die Ukraine am 24. Februar hat Russlands Diktator Wladimir Putin nun eines seiner Kriegsziele erreicht: Seine Soldateska kontrolliert den Regierungsbezirk Luhansk, der sich am 27. April 2014 zur Volksrepublik erklärte und seit Februar von Russland und Syrien als unabhängiger Staat anerkannt wird. In ihm leben etwa 2,1 Millionen Menschen, die sich auf 26 700 Quadratkilometern drängen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte Ende Mai gesagt, die Eroberung der beiden russischen Separatistengebiete in der Ostukraine, Donezk und Luhansk, hätte „bedingungslose Priorität“ für sein Militär. Seit Kriegsbeginn im Februar 2014 hatte Putin der Ukraine wahrheitswidrig vorgeworfen, Kriegsverbrechen an der mehrheitlich russischstämmigen Zivilbevölkerung zu begehen.

Was bedeutet die Einnahme der Stadt für die Ukraine?

Wie schon zuvor beim Fall der benachbarten Stadt Sjewjerodonezk hat der Verlust von Lyssytschansk für die Ukraine keinerlei strategische Auswirkungen. Dazu hätte die Einnahme des Ortes für das Land eine entscheidende Bedeutung für den gesamten Krieg haben müssen. Das ist dann der Fall, wenn Russland einen Ort besetzen würde, an dem sich beispielsweise Eisenbahnen, Straßen oder Wasserwege kreuzen, an dem bedeutende Industrie- oder Rohstoffzentren angesiedelt sind. Das ist nicht der Fall. Hingegen werden durch den Rückzug aus der Region Luhansk in großem Maße ukrainische Truppen – etwa 21 000 Soldaten – freigesetzt. Unter ihnen gut ausgebildete und ausgestattete Heeresverbände wie die 17. Panzerbrigade, die 24. und 30. Panzergrenadierbrigade.

Welche Folgen hat die Eroberung der Region Luhansk für Russland?

Bilder und Berichte in sozialen Medien zeigen, dass die Streitkräfte Belarus’ im großen Umfang Artillerie- und Panzermunition in Züge verladen. Diese finden ihr Ziel in zur Ukraine grenznahen russischen Depots. Das lässt darauf schließen, dass Russlands Geschütze und Kampfpanzer ihre Granaten verschossen haben, die russische Rüstungsindustrie nicht in dem Umfang Nachschub produzieren kann, wie er benötigt wird, und deshalb Belarus den aktuellen Bedarf decken muss.

Welche Folgerungen lassen sich aus den aktuellen russischen Eroberungen ziehen?

Es verfestigten sich seit Beginn dieser Großoffensive am 24. Februar drei Erkenntnisse: 1. Russland verfügt nicht über die strategischen Fähigkeiten und modernen Waffensysteme, wie es dies im vergangenen Jahrzehnt dargestellt hat. Der Westen hat das Land überschätzt. 2. Russland hat massive Nachschubprobleme, die raumgreifende Offensiven in der Ukraine für die kommenden Wochen unwahrscheinlich machen. 3. Russlands Heer ist durch den bisherigen Kriegsverlauf nachhaltig geschwächt worden. Daraus folgt, dass mit jedem gewonnenen Tag und und jeder westlichen Waffenlieferung die Ukraine stärker wird. Sie wird auf Dauer dadurch in die Lage versetzt, operativ und strategisch die russischen Truppen in den besetzten Gebieten erfolgreich anzugreifen.

Wie kann die kriegsgeschundene Ukraine wieder aufgebaut werden?

Seit dem gestrigen Montag treffen sich ukrainische Regierungsvertreter im schweizerischen Lugano mit Diplomaten aus 40 Ländern und Bündnissen, die das Land wieder aufbauen wollen. Mehrere Hundert Milliarden Euro wird es kosten, zerstörte Städte und Dörfer wieder aufzubauen, Minen und Blindgänger zu räumen, Umweltschäden zu beheben. Experten gehen davon aus, dass der Aufbau Jahrzehnte dauern wird. Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) drängt, bereits jetzt über den Wiederaufbau der Ukraine zu sprechen und ihn so schnell wie möglich anzugehen.